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Wunschlos glücklich ist er nicht

Er träumt vom Olympiasieg und einem Leben mit der Familie. Weil das aber selten zueinander passt, muss sich Bobpilot Thomas Florschütz entscheiden.

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Von Tino Meyer

Rosenkohl oder Bohnen? Thomas Florschütz ist’s egal, was neben Kalb und Rosmarinkartoffeln am Weihnachtsabend auf den Tisch kommt. Er hat seine Aufgabe vorfristig erfüllt. Der Baum steht. Und sieht gut aus. Das erste Fest im neuen Haus kann also kommen. Weihnachten in Familie, zumindest drei Tage lang. Der Bobpilot muss am 27. Dezember bereits wieder für Anschub- und Materialtests nach Altenberg fahren, seine Frau Diane ebenfalls arbeiten. Wer aber passt auf Viktor auf, ihren zweieinhalbjährigen Sohn? Ein echtes Problem ist das, an das jetzt aber keiner denken mag.

Jetzt ist erst einmal Weihnachten, und die Verwandtschaft hat sich angekündigt. Heiligabend seine Eltern, tags darauf ihre Familie. Neugierig sind alle. Warum es in Florschütz‘ Saison noch nicht wirklich rund läuft, interessiert jedoch keinen, sie wollen lieber das Haus am Stadtrand von Erfurt sehen. 145 Quadratmeter auf zwei Etagen. Klein, aber fein. Und sehr individuell eingerichtet. „Hat alles meine Frau geplant“, sagt der 34-Jährige. Dabei ist die Sache mit dem eigenen Haus vor allem sein Traum, der sich mit dem Einzug vor knapp drei Wochen nun endlich erfüllt hat.

Wunschlos glücklich ist er trotzdem nicht. Dafür fehlt dem Piloten des BRC Riesa noch der ganz große Titel. Europameister ist Florschütz schon, dazu Olympia- und WM-Zweiter. Einmal aber möchte er der Beste der Welt sein! Das ist sein Ziel, sein Anspruch und Antrieb. Und dafür nimmt er auch die Tränen seines Sohnes in Kauf. „Papa nicht weg“, schluchzt der Kleine, als Florschütz zur Haustür geht und die Schuhe anzieht. Dabei muss Papa diesmal gar nicht weg, jedenfalls nicht lange. Nur für ein paar Stunden zum Sponsorentermin. Bob ist eben auch ein teurer Sport. Bis zu 200 000 Euro kostet eine Saison – und Florschütz die Teilnahme am Forum „Wirtschaft trifft Sport“ deshalb wenig Überwindung. Auch wenn er lieber Viktor ins Bett gebracht hätte.

Dafür ist Papa in dieser Vorweihnachtswoche den ganzen Tag da. Ein Segen ist das für die ganze Familie – aber gerade im Winter die absolute Ausnahme. „Er hält mir ganz schön den Rücken frei“, sagt Diane Florschütz. Kochen sei zwar nicht so sein Ding, meint die 26-Jährige. Doch Flori, wie auch sie ihren Mann ruft, kümmert sich umso mehr um Viktor. Bringt ihn in die Kita, holt ihn wieder ab, steht in der Nacht auf, baut Türme und Murmelbahnen und geht mit seinem Sohn zum Arzt, auch wenn dafür kurzfristig das Athletiktraining ausfallen muss. Viktors schlimmer Husten entpuppt sich aber glücklicherweise als normale Erkältung. Typisches Kinderwinterkranksein also.

Ist Papa da, lässt sich aber selbst das gut ertragen. Der Kleine tobt jedenfalls recht munter durchs Haus, um sich dann aufs Sofa neben Papa zu kuscheln, dessen Handy in den Händen. Der kleine Zeigefinger wischt übers Display. So werden Fotos schließlich heutzutage angeschaut. Viktor sieht erst sich, dann die Bilder vom Hausbau, das Arbeitsgerät von Papa. Er wischt weiter und nennt Vornamen: Kevin, Andreas, Thomas, Ronny ...

Die Jungs sind nicht etwa seine Freunde aus dem Kindergarten, das sind Papas Arbeitskollegen. Genau genommen seine Anschieber Kuske, Bredau, Blaschek und Listner. Mit ihnen ist Florschütz regelmäßig unterwegs, sozusagen auf Montage – wie Tausende andere Deutsche auch. Leistungssport macht da keinen Unterschied. Allerdings dauert die Dienstreise nicht von Montag bis Freitag, sondern schließt das Wochenende mit ein. Und kaum ist der Wettkampf dann vorüber, geht es nonstop weiter zur nächsten Weltcup-Station. Drei bis vier Wochen lang wiederholt sich das, ehe nach einer kurzen Pause die nächste lange Dienstreise beginnt. Routine im Winter, eine Belastung für alle Beteiligten.

Halb vier am Nachmittag sind Florschütz und seine Besatzung samt Transporter und Schlitten zuletzt in Winterberg bei dichtem Schneetreiben gestartet, um kurz vor zwei in der Nacht im französischen La Plagne anzukommen. „Das ist eigentlich Wahnsinn, geht aber nicht anders. Denn Montag ist schon wieder Training“, sagt der gebürtige Sonneberger. Er habe das spaßeshalber mal gezählt. „15 Wochen kommen locker zusammen. Allein im Winter.“

Mehr als hundert Tage also Leben aus der Sporttasche, in oft zu kleinen Hotelzimmern, bei selten gutem Essen. Das alles weit weg von zu Hause. Und dann soll er den Kopf frei haben, erst recht in dieser bisher wenig erfolgreichen Saison. Die Abstimmung mit den Jungs passt noch nicht, auch das Material hakt. Statt an die Familie sollte er besser an die Ideallinie denken. Doch wie soll das gehen, wenn der Sohnemann hustet und schnupft? Überhaupt: Meistens sind Diane und Viktor krank, wenn er nach den drei Wochen nach Hause kommt. „Ich freue mich so, dass er wieder da ist. Dann fällt der ganze Druck von mir ab – und wir werden krank.“ Der Druck, alles allein organisieren zu müssen, für alles allein verantwortlich zu sein. Auch Florschütz kann es kaum erwarten, dass ihn „Sohnemann mit offenen Armen empfängt. So war es bislang jedenfalls immer“.

Angst, sich von Viktors Husten anstecken zu lassen, hat er nicht. Mit Vitamin-Spritzen oder Ingwer könne man gut vorbeugen. Und am Ende sei ja ohnehin alles Kopfsache, meint Florschütz. Die Einstellung mache viel aus. Man muss die Situation annehmen, damit umgehen, „dein Ding machen“.

Als Diane ihren Flori kennenlernte, wusste die gebürtige Erfurterin nicht, was da auf sie zukommt. Wobei das mit dem Bobfahren an sich und der ganzen Reiserei nicht mal das Problem ist. Da kann er stundenlang unterwegs sein oder sich mit Tempo 140 die Bahn runterstürzen, das störe sie nicht. „Ich weiß, dass er sich realistisch einschätzt. Da vertraue ich ihm total“, sagt sie. Was ihr mehr zu schaffen macht, ist das Leben ohne ihren Mann. Den Alltag allein zu bewältigen, Beruf und Kind immer wieder aufs Neue miteinander zu kombinieren. Diane Florschütz ist Kommissarin bei der Kriminalpolizei in Erfurt. Sie ermittelt bei Einbruchsdelikten, im Winter jedoch nur 35 Stunden pro Woche. „Ich kann Viktor doch nicht jeden Tag neun Stunden in der Kita lassen“, sagt sie. Es klingt fast wie eine Rechtfertigung. Oft genug hastet sie durch den Tag und nimmt die Fälle dann doch mit nach Hause, zumindest gedanklich.

Irgendwie will sie es ja allen recht machen „gerade am Anfang der Karriere“: ihrem Sohn, sich selbst, dem Arbeitgeber und natürlich auch ihrem Mann. Er soll sich auf seinen Sport konzentrieren können. Wobei sich das mit Viktor ohnehin ein Stück weit verändert hat. Nicht im Eiskanal selbst, wie Florschütz versichert. Wenn er im Bob sitzt, ist er im Tunnel – und mit sich absolut im Reinen. Doch dieses Von-zu-Hause-wegfahren fällt ihm zunehmend schwerer. „Anfangs habe ich geheult, wenn er wieder los ist. Jetzt muss ich ihn schon mal aus der Tür schieben“, sagt sie.

Am kommenden Mittwoch wird es wohl wieder so sein. Denn richtig passt dieser Test in Altenberg eine Woche vorm Weltcup an gleicher Stelle nicht in Florschütz’ Planung, weshalb er mit dem Bundestrainer auch noch mal reden wird. „Es gibt Leute, die sind 23 Jahre alt und Single, aber auch andere, die sind 34, verheiratet, haben Kind und Haus und Hof. Die kann man nicht alle über einen Kamm scheren“, meint Florschütz.

Er nimmt den Sport ernst, Bobfahren sei noch immer seine Leidenschaft. Aber er ist kein Besessener, für den nur die Ideallinie zählt. „Vielleicht würde ich nicht mehr im Schlitten sitzen, wenn ich bereits Weltmeister wäre“, meint er. Denn zum absoluten Wohlbefinden gehört die Familie mindestens genauso wie das Gefühl von Hantelstange und Lenkseil. „Mein Leben funktioniert. Aber manchmal“, das hat Florschütz inzwischen festgestellt, „passt der Sport da nicht mehr richtig rein.“ Schon gar nicht zu Weihnachten.