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Wo Martins Herz schlägt

Nach dem Unfalltod ihres Sohnes stimmte seine Mutter einer Organspende zu. Ein Trost in der Hoffnungslosigkeit.

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© Thomas Kretschel

Von Jana Ulbrich

Sie haben alles getan, was in ihrer Macht steht, sagt der Chefarzt. Sie haben auch noch eine Notoperation versucht. Marion Strauß sieht sich in diesem Arztzimmer sitzen. Sie sieht den Arzt, der noch die OP-Kleidung trägt, und der sich jetzt vor sie hockt und ihre Hand nimmt. Und dann hört sie diese Worte, die sie doch überhaupt nicht hören will: Es besteht keine Hoffnung. Keine Hoffnung!

Das letzte Foto von Martin ist das Lieblingsbild seiner Mutter. Foto: privat
Das letzte Foto von Martin ist das Lieblingsbild seiner Mutter. Foto: privat © privat

Martin ist doch erst 22. Ihr einziger Sohn. Ihr einziges Kind. Polizisten haben sie hier hergerufen in die Dresdner Uniklinik. Ihr Sohn hatte einen schweren Unfall, haben sie ihr gesagt. Es ist der 1. Mai 2010, frühmorgens. Mit ein paar Freunden ist Martin an diesem Morgen auf dem Heimweg von einer Party. An einer Kreuzung nicht weit von dem Klub, in dem sie gefeiert haben, fährt ein Gleichaltriger mit seinem Auto in die Fußgängergruppe. Das Auto erwischt Martin mit voller Wucht.

So ein völlig sinnloser Tod. Marion Strauß will sich damit nicht abfinden. Sie will nur eins: Ihr Sohn soll leben. Martin soll weiterleben. Und in diesem Moment, so wird sie sich später erinnern, in diesem Moment ist der Gedanke da. Noch ehe der Chefarzt sie fragen kann, fragt Marion Strauß den Chefarzt: Kann Martin seine Organe spenden? Es ist für sie in dieser Situation die einzig vernünftige Entscheidung. Es ist das Einzige, das in diesem sinnlosen Tod doch noch irgendeinen Sinn findet. Sie ist sich sicher, dass auch Martin so entschieden hätte, sagt sie. Auch wenn sie und ihr Sohn nie über dieses Thema gesprochen haben. Welcher 22-Jährige beschäftigt sich schon mit seinem Tod? Aber schließlich war Martin ein aktiver Blutspender. Dabei hat er ja auch etwas von sich für das Leben anderer gegeben.

Martins Gehirn wird bei dem Unfall irreversibel geschädigt. Aber seine Organe bleiben alle unversehrt. Am 3. Mai 2010, 0.10 Uhr, wird der 22-Jährige für hirntot erklärt. Ein ganzes Netzwerk hat sich da schon in Bewegung gesetzt. Passende Empfänger müssen gesucht und benachrichtigt werden. In der Dresdener Uniklinik beginnen die Chirurgen mit der Organentnahme. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit, der nach sehr strengen Regeln und unter Aufsicht von Mitarbeitern der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) abläuft. Viel weiß Marion Strauß nicht über die Empfänger, nur das Alter und das Geschlecht. Alle Angehörigen von Organspendern, die das möchten, können das von der DSO erfahren. „Mir reicht das“, sagt Marion Strauß. „Mehr wäre vielleicht gar nicht gut.“ Das Wichtigste: Die Organe ihres Sohnes können sieben schwer kranken Menschen helfen. Ihnen vielleicht auch das Leben retten.

Immer weniger Organspenden

Marion Strauß ist jetzt 58. Vor ihr auf dem Couchtisch in ihrer kleinen Dresdner Neubauwohnung liegt ein dicker Aktenordner, in dem sie alles aufbewahrt um den Tod ihres Sohnes: Zeitungsartikel über den Unfall und die spätere Gerichtsverhandlung gegen den Fahrer, Dokumente, Protokolle, Briefe. In den meisten geht es um die Organspende. Seit Martins Tod engagiert sie sich sehr dafür.

Wie wichtig das ist, zeigt die Entwicklung der Spenderzahlen in der Region. 2017 ist die Bereitschaft zur Organspende in Mitteldeutschland auf den niedrigsten Stand seit 20 Jahren gesunken. In Sachsen hat es im vorigen Jahr insgesamt 50 postmortale Organspender gegeben, im Jahr davor waren es noch 60, vor zehn Jahren 86. Dabei hätten es auch im vergangenen Jahr viel mehr sein können. 17 Mal sind die Transplantations-Koordinatoren allein in die Dresdner Krankenhäuser gerufen worden. In 13 Fällen konnten die Organspenden realisiert werden, davon allein acht im Uni-Klinikum.

Die Gründe für die Ablehnung sind unterschiedlich. Einer der häufigsten aber ist schlichtweg, dass die Angehörigen nicht wissen, wie der Verstorbene selbst für sich entschieden hätte – und sich deshalb mit einer Zustimmung überfordert sehen. Nur in einem von neun Fällen ist den Angehörigen der persönliche Wille des Verstorbenen bekannt. „Das ist das eigentliche Problem“, sagt Dr. Christa Wachsmuth, die geschäftsführende Ärztin der DSO für die Region Ost. An dieser Situation hätten auch die Kampagnen der Krankenkassen nichts geändert. Zwar hat mittlerweile jeder Versicherte einen Organspenderausweis zugeschickt bekommen, auf dem er nur noch Ja oder Nein anzukreuzen braucht, aber nur die allerwenigsten haben diesen Ausweis tatsächlich einstecken. Und auch in den meisten Patientenverfügungen fehlen Informationen über eine mögliche Bereitschaft zur Organspende. „Wir würden uns sehr wünschen, dass sich wirklich jeder Gedanken über das Thema macht und eine Entscheidung für sich trifft, von der auch die Angehörigen wissen“, sagt Dr. Wachsmuth. „Das würde ihnen im schlimmsten Moment eine große Last abnehmen.“ Und vor allem würde es den mehr als 500 Sachsen und bundesweit mehr als 10 000 Menschen helfen, die dringend auf ein Spenderorgan warten.

Der Kreis schließt sich

Marion Strauß blickt aus dem Fenster. Dort drüben ist der Friedhof, auf dem ihr Sohn begraben ist. „Ich denke jeden Tag an ihn“, sagt sie. „Und dann denke ich: ,Wo geisterst du jetzt gerade rum? Wo mag dein Herz jetzt gerade schlagen?‘“ Sie stellt sich vor, dass der Mann mit Martins Herz vielleicht eine Familie hat und Kinder. Und irgendwann mal Enkel. Ihr Sohn, der keine Chance mehr auf sein Leben hatte, hat geholfen, dass das Leben eines anderen weitergehen kann. Marion Strauß ist stolz darauf. „Hier schließt sich der Kreis“, sagt sie. „Es ist sehr tröstlich für mich zu wissen, dass der Tod auf diese Weise anderen Menschen die Chance zum Weiterleben gibt.“

Sie hat ein Netzwerk für Spenderfamilien mitgegründet, in dem sich Angehörige und Freunde von Organspendern regelmäßig treffen und austauschen können. Auch Empfänger von Spenderorganen kommen zu den Angehörigentreffen. Sie sind sich nahe, sagt Marion Strauß, auch wenn es streng anonym bleibt, wer genau ein Organ von wem bekommen hat. Das ist am Ende auch gar nicht wichtig.