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Wo eine Magd Ruinen wachküsst

Auf dem Oybin im Zittauer Gebirge entführt Simone Richter Groß und Klein in fremde Welten. Ihre Kleider sind dabei mehr als ein Kostüm.

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© Matthias Weber

Von Anja Beutler

Oybin. Simone Richter zupft an ihrer moosgrünen Gugel. „Ein bisschen zugig heute“, sagt sie und kuschelt sich in das mittelalterliche Kleidungsstück, das die Schultern bedeckt und eine zipfelige Kapuze hat. Doch dann lugt die wärmende Sonne über den Ruinen hervor. Simone Richter steht in Leinenröcken, Miederweste und Häubchen auf dem Berg Oybin. Über der weißen Schürze baumeln am Riemen ein Almosenbeutel aus Leder, ein Holzlöffel und ein dicker Schlüsselbund. Die kleine, zierliche Frau hat sich nicht verkleidet. Sie ist in ihr zweites Ich geschlüpft: Als Magd Bruni wird sie gleich mit einem reichlichen Dutzend Gästen zur Burg- und Klosterruine auf den Oybin hinaufsteigen.

Die Zittauer Schmalspurbahn fährt täglich mit Dampf ins Gebirge. Die Strecken verbinden Zittau jeweils mit den Gebirgsorten Jonsdorf und Oybin, aber auch eine Route direkt zwischen Jonsdorf und Oybin verkehrt über Bertsdorf.
Die Zittauer Schmalspurbahn fährt täglich mit Dampf ins Gebirge. Die Strecken verbinden Zittau jeweils mit den Gebirgsorten Jonsdorf und Oybin, aber auch eine Route direkt zwischen Jonsdorf und Oybin verkehrt über Bertsdorf. © Matthias Weber

Seit 2005 bietet die 52-Jährige historische Führungen an. „Das ist kein kostümierter Klamauk“, unterstreicht sie. Denn die Sache mit der Geschichte nehmen sie und ihre Mitstreiter – der Burgkastellan beispielsweise – sehr ernst. Auf dem Weg den Berg hinan wird sie ihre Begleiter mit Wundern und Rekorden überraschen, längst vergangene Macht und sagenhafte Schätze auferstehen lassen, steinerne Spuren entziffern und mit Anekdoten verknüpfen – kurzum, sie wird die Ruine auf dem 514 Meter hohen Berg im Zittauer Gebirge lebendig machen.

Simone Richter muss ein bisschen schmunzeln, wenn sie die skeptische Frage hört, was an den Steinresten auf dem Berg so spannend sein soll. Da steht ja nicht mehr viel. „Diese Ruine liegt vor uns wie ein aufgeschlagenes Buch, man muss es nur lesen können“, sagt sie.

Dass Simone Richter die Zeichen entziffern kann, ist nicht zu überhören und zu übersehen: Mühelos wandert sie zwischen den Zeiten und Welten hin und her: „Wussten Sie, dass dies das einzige italienische Kloster nördlich der Alpen ist?“, fragt sie in die Runde. Mit dem Silber aus böhmischen Bergwerken war einst für nur sechs Cölestiner ein Kloster errichtet worden. 1384 war das. Berühmt waren die Mönche für ihre Buchbindekunst und die gregorianischen Gesänge, auf deren Klang das einstige Kirchenschiff optimal zugeschnitten war. Zudem baute sich kurz zuvor – 1364 – Kaiser Karl IV. seinen Alterssitz auf dem Oybin – in malerischer Landschaft. Zum Genießen der schönen Aussicht ist Karl freilich nicht wirklich gekommen.

Als Magd Bruni kann Simone Richter viele solcher Geschichten erzählen. „Egal, ob Kinder oder Professoren mit mir gehen – die Magd ist einfach die wandelbarste Gestalt, sie kann sich auf die Gäste einstellen“, erklärt die kleine Frau, die ihre Bruni gern auch ein bisschen keck gibt. Wandelbar sind auch ihre Erzählungen: „Keine Führung ist wie die andere“, sagt sie selbst. Viele Stammgäste buchen die Spaziergänge mit ihr regelmäßig und lernen dennoch immer wieder Neues dazu. Dass dies möglich ist, liegt am breiten Wissensschatz, den sie hat: „Seit meiner Kindheit habe ich Geschichten und Sagen geliebt, geradezu gefressen“, sagt die Frau, die im Zittauer Gebirge aufgewachsen ist. Mit der Zeit hat sie sich über vielerlei Fachliteratur aber auch die „echte“ Geschichte angeeignet. Immer wieder stöbert sie in Bibliotheken, hat sich ein Netzwerk mit Geschichtsinteressierten und Forschern aufgebaut.

Und so wechselt Magd Bruni spielend von Kaiser Karl IV. zu romantischen Malern wie Caspar David Friedrich oder Carl Gustav Carus, deren Oybin-Bilder von New York bis St. Petersburg zu sehen und weltberühmt sind. „Ein Fels in aller Welt“, kommentiert Simone Richter. Und wie eng die Bande vom Oybin einst mit Prag oder auch mit der Festung Königsstein waren, kann sie ganz nebenbei erklären. Trockene Fakten gibt es bei ihr nicht: Warum die Sandsteinfelsen Löcher haben, weiß sie anschaulich zu erklären. Und beim Rundblick über die bewaldeten Gipfel des Zittauer Gebirges erklärt sie den Gästen, dass im Umkreis von 25 Kilometern 25 weitere Burgen standen. Zu Magd Brunis Zeiten konnte man sie teilweise sehen, denn damals waren die Bergkuppen kahl gerodet.

Dass sie ihr Hobby zum Beruf machen würde, hat sich Simone Richter früher nie vorstellen können. 18 Jahre lang hat sie als Versicherungsmaklerin gearbeitet. Aber dann musste sie sich entscheiden: Gästeführerin, Reiseleiterin und historisch-lustiges Theaterspiel mit einem Kollegen oder Hausrat- und Unfallpolicen. „Ich habe meine eigene Touristikagentur gegründet und mich am Ende auch dafür entschieden“, sagt sie. Bereut hat sie es nicht – und auch die Gäste kommen zahlreicher. Auch Schulklassen besuchen den bekannten Gebirgsgipfel wieder, weil sich herumgesprochen hat, dass Ruinen nicht langweilig sein müssen. „Wir haben in diesem Jahr sogar Schüler, die sich hier oben zur Zeugnisausgabe treffen“, freut sich Simone Richter.

Dass auf dem Oybin historische Führungen mehr als ein Trend sind, da ist sie sich sicher: Denn weil Blitzschlag und Brand die Steine und Mauern von Kloster und Burg 1577 förmlich aufgefressen haben und der Verfall danach sein Übriges tat, bauen Figuren wie die Magd Bruni die einstige Pracht wieder auf – in der Fantasie. Menschenhände werden die alten Mauern jedenfalls nicht mehr komplettieren – auch wenn auf dem Oybin seit Jahrzehnten ständig Baugerüste stehen und es stetig Veränderungen gibt. „Wir erhalten das, was da ist“, erklärt die Burgmagd.