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Wo die Oberlausitz am jüngsten ist

Carlsbrunn ist ein besonderes Dorf. Besonders klein, besonders idyllisch. Mit einer besonderen Geschichte.

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© Matthias Weber

Von Frank Seibel

Vielleicht wird Max Maler. Oder Tischler, oder Maurer, Schlosser oder Elektriker. An seine Zukunft hat Max Schreiber freilich noch überhaupt keinen Gedanken verschwendet. Er ist ja gerade mal zwei Jahre alt, und die Gegenwart ist so großartig, neu und faszinierend, dass der zierliche blonde Junge genug damit zu tun hat, alles zu entdecken, was ihm hier und jetzt begegnet.

... und Bernd Hentschel mit einem besonderen Schild
... und Bernd Hentschel mit einem besonderen Schild © Thomas Eichler

An diesem Abend, zum Beispiel, überragt er alle. Er sitzt auf dem Schoß seines Vaters Martin, und der sitzt auf dem Bock der alten Feuerwehr-Lösch-Kutsche, die wohl aus dem 19. Jahrhundert stammt, auch wenn „1933“ draufsteht. Mit seinen blauen Augen schaut er vergnügt über die Köpfe von 14 Frauen und Männern hinweg, die wenige Tage zuvor noch nicht ahnten, dass sie sich an diesem Abend mitten in der Woche vor dem sehr kleinen Feuerwehrdepot ihres sehr kleinen Dorfes versammeln würden: Carlsbrunn.

Weil hier kein Auto einfach mal so „durchkommt“ von A nach B, ist es ein Leichtes, einfach mal die Biertische und -bänke aus dem Depot zu holen, einen Grill dazu; Tina Knobloch hat Bier, Limo, Bratwürste und weißes Toastbrot mitgebracht. So wird der Termin mit der Zeitung zum spontanen kleinen Dorffest. Genau an der Stelle, wo vor 254 Jahren drei junge Handwerker ihre Taschen abgestellt haben, um sich hier ein Leben aufzubauen.

1763 – das ist lange her. Einerseits. Goethe war gerade 14 Jahre alt, die Vereinigten Staaten von Amerika waren noch britische Kolonien, Alexander von Humboldt noch nicht einmal geboren. Und doch steht am Ortseingang von Carlsbrunn: Jüngstes Dorf der Oberlausitz. Und das ist nicht auf das Durchschnittsalter der Menschen hier bezogen, denn dann müsste der kleine Max fast der jüngste Oberlausitzer überhaupt sein, was mit zwei Jahren ja wirklich undenkbar wäre.

Nein, jung ist das Dorf an sich im Vergleich zu den anderen Dörfern in der Oberlausitz. Kittlitz zum Beispiel, das nur einen Steinwurf entfernt in Richtung Löbau liegt, hatte schon im 11. Jahrhundert eine Kapelle, um 1250 eine richtige Kirche und ab 1348 ein Ortsgericht. Auch Weißenberg gab es schon seit über 500 Jahren, als die Handwerker aus Böhmen nach einem geeigneten Flecken für sich und ihre künftigen Familien suchten. So klopften sie bei einem Gutsherren an, der das Land zwischen Kittlitz und Weißenberg besaß: Karl Gotthelf Freiherr von Hund. Der Freimaurer überließ den Glaubensflüchtlingen das 45 Hektar kleine Land mit einem Brunnen in der Mitte, von dem das Dorf seinen Namen hat: Carlsbrunn.

Und dann ging viel verloren

254 Jahre später lebt das Dörfchen noch immer. Und der kleine Max wächst in einem der ältesten Häuser am Ort auf. Sein Vater Martin ist Maler, ein Handwerker also, wie so viele, die seit Generationen hier lebten und leben. Vor gut zwei Jahren, kurz vor der Geburt des kleinen Sohnes, hat er das Haus am Rand des Dorfes gekauft und gilt hier als „Auswärtiger“, weil er aus Kittlitz stammt. Aber schon in Kittlitz, sagt der Schreiber-Martin, hätte er sich ein Haus nicht leisten können. Unter 100 000 geht da gar nichts, sagt er. Dabei ist Kittlitz nur drei Kilometer entfernt und gehört ebenfalls zu Löbau. Aber Kittlitz hat einen Kindergarten, eine Grundschule, einen Bäcker, einen Fleischer, eine Gaststätte. Und eine reguläre Busverbindung in die Stadt. Auf all das können Max’ Eltern noch verzichten. Es sind ja nur ein paar Kilometer mit dem Auto, bis man alles hat, was man zum Leben braucht. Und Max, sagt Vater Martin, hat hier alle Freiheit zum Spielen und Draußensein. Wie gesagt: Autos kommen hier nicht durch, und wenn, dann sind es Nachbarn.

Dass Carlsbrunn vor allem in den vergangenen Jahrzehnten Schritt für Schritt abgehängt wurde, haben die „Alten“ sehr wohl bemerkt. Bereits 1974 wurde das Dorf nach Kittlitz eingemeindet. Und an die einstmals drei Gaststätten erinnern sich nur Urgesteine wie der Hentschel-Bernd, der seit seiner Geburt vor über sechs Jahrzehnten in Carlsbrunn lebt. Denn das war schon in den 1960ern nicht mehr so. Aber immerhin gab es bis in die 1990er Jahre hinein den alten Kretscham. Das Haus steht noch immer direkt am Löschteich mitten im Ort. Dass hier früher links unten die Gaststätte und rechts unten die Fleischerei war, sieht nur, wer es weiß.

Seit Carlsbrunn mit Kittlitz vor 14 Jahren in die Große Kreisstadt Löbau eingemeindet wurde, gingen weitere Einrichtungen verloren, in denen die Menschen hier ihre Dorfgemeinschaft pflegen konnten. Ein Sportplatz, ein Spielplatz; dass die Fleischerei geschlossen hat, kann man der Löbauer Stadtpolitik nicht anlasten, aber dass die Stadt öffentliche Flächen an Privatleute verkauft hat, wurmt die Carlsbrunner noch immer. Als die Feuerwehr Carlsbrunn im Jahr 2009 ihr 125-jähriges Bestehen gefeiert hat, sei der Löbauer Oberbürgermeister demonstrativ nicht erschienen, erinnert sich einer. „Ihr wisst doch, dass Ihr zur Kittlitzer Feuerwehr kommt“, habe der OB damals gesagt.

Ja, das wussten die Feuerwehrleute, aber noch heute tragen sie ihre alten dunklen Polohemden mit dem Carlsbrunner Feuerwehr-Wappen, wenn sie vor dem einstigen Depot von 1884 zusammenkommen. Heute ist das kleine, flache Häuschen das Dorfgemeinschaftshaus – mit weniger als 40 Quadratmetern Fläche.

Als die Lehrerin Tina Knobloch 2011 aus der Eibauer Ecke nach Carlsbrunn gezogen ist, gab es auch die eigene Dorffeuerwehr schon nicht mehr. Trotzdem hat die Lehrerin es nie bereut, hierhergekommen zu sein. „Ich bin sofort gut aufgenommen worden“, sagt sie und schwärmt von der guten Nachbarschaft. Jeder hilft jedem, aber niemand wird bedrängt, so beschreibt sie das Verhältnis der Menschen zueinander. Gemeinsam mit dem pensionierten Eisenbahner Bernd Hentschel, ihrem Nachbarn, gehört sie mittlerweile zum Kern der Ortsgemeinschaft; „Gemeindeverwaltung“ werden sie gelegentlich liebevoll genannt. Denn Tina Knobloch gehört zu denen, die das Dorfleben zusammenhalten. Allerdings war es eher ein Zufall, dass einer aus der Runde beim Stöbern in alten Unterlagen auf das Gründungsdatum stieß: 1763. Das war 2012, im 249. Jahr des Bestehens. „Es herrschte gerade Flaute im Dorfleben, seit die Feuerwehr nach Kittlitz eingegliedert wurde“, sagt Tina Knobloch. So war der Beschluss, den 250. Geburtstag groß zu feiern, schnell gefasst. Zu diesem Anlass haben die Carlsbrunner dann auch ihre Schilder angefertigt: Carlsbrunn, jüngstes Dorf der Oberlausitz. So steht es jetzt am Ortseingangsschild.

Hoher Besuch aus der Stadt

Das Dorfjubiläum – zu dem überraschend sogar der Löbauer Oberbürgermeister kam und lange blieb – hat einiges verändert. Hexenfeuer, Kinderfest im Herbst und das Weihnachtsbaum-Brennen haben sich als Traditionen etabliert. Und die Stadt Löbau mäht jetzt am alten Feuerwehr-Depot sogar den Rasen auf eigene Kosten. Das ist eine Geste, die die Carlsbrunner wohlwollend registrieren. Auch wenn sie noch immer finden, dass die Stadt nicht alle öffentlichen Grundstücke – außer dem Depot und dem Löschteich – hätte verkaufen sollen. Zum Glück stört sich niemand an einem spontanen Straßenfest. Und vielleicht organisiert der dann große Max in 21 Jahren das Fest zum 275. Geburtstag.