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Wo alle Zinnlein fließen

Als kleine Handwerker verkleidet, schlüpfen Kinder in Pirna aus den Kalendertürchen. Die SZ trifft ihre Vorbilder. Heute der Zinngießer.

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Thomas Möckel

Pirna. Wolfgang Grahl hat die dicke Lederschürze übergezogen, er braucht sie als Schutz, wenn er gleich Späne abhebt. In seine Drehmaschine aus den 1920er-Jahren hat er einen Kerzenleuchter-Rohling eingespannt, die Oberfläche ist noch rau und matt. Als der Lederriemen die Maschine in Schwung bringt, setzt Grahl zunächst ein Eisen an den rotierenden Rohling, wenige Millimeter dicke Späne fallen nach unten. Mit einer kleineren Klinge widmet er sich danach der Feinarbeit, die Späne werden immer dünner. Abfall sind sie bei ihm nicht, sondern wertvoller Rohstoff, er kann sie einschmelzen und immer wieder verwenden.

Jetta Jahn  schaut als Zinngießerin aus dem 20. Türchen des Adventskalenders. In den Händen hält sie zwei Zinnbecher.
Jetta Jahn schaut als Zinngießerin aus dem 20. Türchen des Adventskalenders. In den Händen hält sie zwei Zinnbecher. © Marko Förster
Wolfgang Grahls Handwerk ist heute nur noch selten zu finden. Der 71-Jährige schafft in seinem Liebethaler Atelier Zinn-Kunst, die in der ganzen Welt gefragt ist.
Wolfgang Grahls Handwerk ist heute nur noch selten zu finden. Der 71-Jährige schafft in seinem Liebethaler Atelier Zinn-Kunst, die in der ganzen Welt gefragt ist. © Marko Förster

Dass Wolfgang Grahl, 71, heute solche Späne macht, ist purer Zufall, und inzwischen wirkt er wie einer der letzten Dinosaurier, der noch seinesgleichen sucht.

1966 entdeckte der damals 21-Jährige einen Beitrag in der DDR-Illustrierten „NBI“, Neue Berliner Illustrierte. Im Vordergrund eines Bildes standen Zinngefäße aller Art, hinten an einem Tisch saß, ganz in seine Arbeit versunken, ein schmaler barhäuptiger Mann. Es war Herbert Knöfel, ein begnadeter Zinngießermeister, einer von zweien in der gesamten DDR. Seine Werkstatt betrieb er in Liegau-Augustusbad bei Radeberg. Angestellte hatte er nie. Doch Wolfgang Grahl entschied: Das will ich auch machen.

Dabei war sein Berufsweg anders vorgezeichnet. Künstlerisch äußerst begabt, wollte der gebürtige Liebethaler Kunst studieren und Maler werden. Aber wie es der Zufall so wollte, kannte jemand aus dem Pirnaer Malzirkel den Zinngießer, man stellte einander vor, 1967 begann Grahl eine Lehre bei ihm. „Der Beruf ist mir wie auf den Leib geschneidert“, sagt er heute.

1970 ausgelernt, zog es ihn wieder nach Liebethal, obwohl Knöfel einen Nachfolger suchte. Aber Grahl, seit 1979 Meister seines Fachs, wollte sein eigenes Ding machen – neue moderne Formen schaffen, sich kreativ austoben. Das tut er bis heute. Aus allem Zinn, das Grahl anfasst, schafft er Unikate, keines gleicht dem anderen. Was er macht, ist Kunsthandwerk. So etwas sprach sich herum, zu DDR-Zeiten arbeitete er beispielsweise für die Regierung und Olympiamannschaften, er schuf Weinbecher, Teller, Leuchten. Dosen, die seine Auftraggeber dann gern verschenkten. Seine Art der Gestaltung ist einmalig, seine Entwürfe bisher nie da gewesen. Alles entstand und entsteht noch heute in seinem Liebethaler Atelier, Zinn-Kunst mit seinem Namen findet sich aber beinahe auf allen Erdteilen, die Liebethaler verschickten sie gern an Freunde in der ganzen Welt. Grahl dreht seine Zinn-Kunstwerke, manchmal gießt er sie, 400 Grad muss das Gemisch dann heiß sein, dass es fließt. Damit es gut aussieht, kombiniert er Zinn auch ab und an mit edlen Hölzern. Solange er noch kann, will er weitermachen, es vergeht kaum ein Tag, an dem er nicht in der Werkstatt ist.

Beim Kerzenleuchter-Rohling greift er nun zu Schmirgelleinwand, die schon abgenutzt sein muss. Den Feinschliff macht dünne Stahlwolle, die Oberfläche wird auf ganz besondere Weise matt. Das Geheimnis dieses einmaligen Glanzes: Seit einigen Jahren mischt Grahl etwas Silber in die Zinnmasse.