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„Wir wussten nie, wo wir die Nacht verbringen“

Ende des Zweiten Weltkrieges floh die Familie von Rosemarie Gaudlitz aus ihrer Heimat und kam nach Sachsen. Willkommen waren sie dort nicht gerade.

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© André Braun

Von Doreen Hotzan

Ein paar computerbeschriebene Seiten. Das ist alles, was Rosemarie Gaudlitz aus Döbeln aus ihrer Vergangenheit geblieben ist. Eigentlich wollte sie ja mal ein Buch veröffentlichen, erzählt die 70-Jährige, die ursprünglich aus Schlesien stammt. Doch das Projekt sei aufgrund eines Missgeschicks gestorben. „Ich hatte sämtliche Skripte auf dem PC abgespeichert. Eines Tages ging die Festplatte kaputt und somit gingen sämtliche Skripte verloren“, sagt Rosemarie Gaudlitz.

Ihre Tagebuchaufzeichnungen, die sie als Hauptquelle für ihr Buch nutzen wollte, hat die 70-Jährige schon vor einer Weile weggeschmissen. Die aufzuheben hätte in ihren Augen keinen Sinn gemacht. „Das wühlt doch sonst nur wieder alles auf“, sagt sie. Vieles, was ihre frühe Kindheit betrifft, hat Rosemarie Gaudlitz von anderen erzählt bekommen. Sie selbst kann sich nur an wenige Dinge aus der Zeit gegen Ende des Zweiten Weltkrieges erinnern.

Rosemarie Gaudlitz erblickt am 19. Juli 1944 als Jüngste von drei Schwestern das Licht der Welt. Einen Tag vor dem missglückten Attentat auf Adolf Hitler, fügt sie hinzu. Ihr Geburtsort ist Bad Flinsberg, ein Kurort im heutigen Polen. „Hitler hatte damals dafür gesorgt, dass alle schwangeren Frauen dort entbinden konnten“, so die Döbelnerin. Ihre Mutter erzählt ihr später, dass es dort wie am Fließband zugegangen sei. Dass Kinder nach der Geburt vertauscht wurden, kam aber nicht vor. „Das war lange Zeit meine größte Angst, weil meine mittlere Schwester mal zu mir sagte: ‚Du brummst, dich haben sie bestimmt nach der Geburt in dem Durcheinander verwechselt‘“, so Rosemarie Gaudlitz.

Als sie sechs Monate alt ist, muss sie mit ihrer Familie ihre Heimat fluchtartig verlassen. Davon weiß die Döbelnerin nicht viel, außer der ihr ständig erzählten Geschichten. „Dass wir Wasser aus Bächen tranken, um Essen bettelten, nie wissen konnten, wo und wie die nächste Nacht für uns eine Schlafmöglichkeit bieten würde, oder eben auch nicht“, sagt Rosemarie Gaudlitz. Oder wie die, dass nach der Ankunft der vierköpfigen Familie in dem kleinen sächsischen Dorf Zaschwitz keiner der Bewohner bereit ist, eine Mutter mit drei Kindern bei sich aufzunehmen. Letzten Endes kommt die Familie beim Ortsvorsteher unter. Vergleicht Rosemarie Gaudlitz ihr Schicksal mit der aktuellen Flüchtlingssituation in Deutschland, sieht sie durchaus Parallelen. „Wer von uns würde denn heute in seinem Haus Platz schaffen für Umsiedler – woher auch immer sie kämen?“, fragt sie nachdenklich.

Gemeinsam mit ihren Schwestern und ihrer Mutter lebt Rosemarie Gaudlitz nur kurze Zeit beim Ortsvorsteher. Anschließend ziehen sie zu einer Familie, welche die Döbelnerin nur die Milch-Richters nennt. Zu viert wohnen sie dort in einem kleinen Zimmer. „Es hatte vier Fenster, war sehr kalt und hatte einen Küchenherd, auf dem immer ein Ziegelstein lag und wenn geheizt war, dann wurde auch der Ziegelstein mit warm und durfte eingewickelt mit ins Bett genommen werden“, erzählt die 70-Jährige.

Der Vater bleibt ein Fremder

Besonders gut erinnern kann sich Rosemarie Gaudlitz an Fräulein Mariechen, die Postfrau. Sie weint mit jeder Frau mit, die im Nachkriegsgeschehen schlechte Nachrichten erhält. Familie Gaudlitz überbringt Mariechen jedoch eines Tages ein Telegramm mit guten Neuigkeiten. Darin steht, dass Vater Willi im Dezember 1949 aus der sibirischen Kriegsgefangenschaft heimkehren wird. Rosemarie Gaudlitz kennt ihren Papa nur von einem Foto. „Das war ein schmucker Mann“, sagt sie.

Die Familie holt ihn gemeinsam an einem dunklen Dezembertag vom Bahnhof ab. Den Augenblick, in dem Rosemarie Gaudlitz ihren Vater zum ersten Mal sieht, beschreibt sie wie folgt: „Er, klein, in eine Wattejacke verpackt, begrüßt Mutti, Anni, Ilse und nach einer für mich endlos langen Zeit sagt er: ‚Ach ja, dich gibt es ja auch.‘“ Für Rosemarie Gaudlitz hat der Mann, der vor ihr steht, keinerlei Ähnlichkeit mit dem auf dem Foto. „Vati war dick, verquollen, mit Erfrierungen im Gesicht“, sagt sie. Für seine jüngste Tochter ist er ein fremder Mann – und bleibt es auch. „Er war gelernter Konditor, arbeitete aber nach dem Krieg im Steinkohlebergbau. Er kam immer nur an den Wochenenden nach Hause. Für mich blieb er der Gast“, sagt sie. Gemeinsame Unternehmungen sind selten. Nur einmal geht er mit seiner Jüngsten in die Pilze. „Da war ich happy.“

Über seine Kriegsgefangenschaft spricht der Vater nicht. Nur einmal deutet er an, dass er wegen ein paar geklauter Kartoffeln fast totgeschlagen worden wäre. Während seiner Gefangenschaft kümmert er sich auch um einen Mithäftling, der noch vor ihm entlassen wird. „Eines Tages stand der bei uns vor der Tür und bedankte sich bei meiner Mutter. Er sagte, er hätte das Lager ohne den Willi nicht überlebt“, schildert Rosemarie Gaudlitz. Mehr erfährt sie nicht.