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„Wir werden zu geeigneten Anlässen präsent sein“

Betriebsratschef Peter Jurke zur Rettung des Nieskyer Waggonbaus, Fehlentscheidungen, Sorgen und Chancen.

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© Jens Trenkler

Von Carla Mattern

Für viele kam die Nachricht über die Waggonbau-Insolvenz am Dienstag überraschend. Nicht so für Peter Jurke. Der 55-jährige Nieskyer beschäftigt sich seit einem halben Jahr mit den Anzeichen dafür. Mit der SZ spricht er über die Sorgen, Hoffnungen und Pläne, über Fehlkalkulation und falsche Entscheidungen.

Herr Jurke, was folgte dem Schock, wie ist die Stimmung unter den Waggonbauern?

Die Stimmung ist sehr getrübt. Viele Kolleginnen und Kollegen kennen noch die Situation von vor zehn Jahren und fragen sich, wie geht es jetzt weiter.

Was meinen Sie, sind die wahren Gründe für die Insolvenz mittlerweile benannt?

Die Verzögerungen in Projekten aufgrund einer überstürzten Strategie in Richtung China und Türkei haben dafür gesorgt, dass die Komplexität nicht mehr beherrschbar war. In den Hallen sind fünf, sechs Aufträge gleichzeitig, das ist für einige Abteilungen wie die Farbgebung nicht mehr realisierbar, trotz einer Sieben-Tage-Woche. Als die Insolvenz beantragt wurde, war der Waggonbau nicht zahlungsunfähig, aber die drohende Überschuldung Ende Januar/Februar zeichnete sich ab.

Mit einem einstelligen Millionenbetrag hätte der Gesellschafter die Insolvenz abwenden können, Banken und Freistaat wollten helfen. Stimmt das?

Ja, das ist so. Aber nach meinem Kenntnisstand, wollte oder konnte der Gesellschafter sich letztendlich nicht beteiligen.

Warum wurde Geschäftsführer Thomas Steiner abberufen, ohne Entlastung, und bekam sogar ein Hausverbot? Waren dafür die Fehlkalkulationen und zu vielen Aufträge mit zu viel Komplexität schon im Oktober der Anlass?

Ich möchte nicht, dass der Eindruck entsteht, dass im Waggonbau oberflächlich kalkuliert wird. Was ein Geschäftsführer aus einer soliden Kalkulation macht, ist ein unternehmerisches Risiko. Es ist falsch, von zu vielen Aufträgen zu reden, sondern zu viele sollten auf einmal das Werk verlassen. Um Firmen in der Türkei und China als Zulieferer einzubinden, braucht es viel Zeit und Personal. So eine strategische Entscheidung kostet Geld und ist ein Risiko. Das ist durch die ehemalige Geschäftsführung falsch bewertet worden. Ob die Gesellschafter aufgrund ihrer Kenntnisse Herrn Steiner ein Hausverbot erteilt haben, darüber ist mir nichts bekannt.

Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen dem Auslaufen der Beschäftigungsgarantie und der Insolvenz?

Die Beschäftigungsgarantie für 195 Mitarbeiter war bereits im April 2017 ausgelaufen. Aber der Gesellschafter hat eine fünfjährige Standortgarantie abgegeben, das ist bis April 2019.

Und im Falle einer Insolvenz? Zählt die als höhere Gewalt?

Dass solche Garantien durch die Beantragung einer Insolvenz ausgehebelt werden können, zeigt unsere Situation.

Ist es aus Ihrer Sicht realistisch, wenn der Waggonbau-Geschäftsführer Janßen davon spricht, die 320 Arbeitsplätze der Stammbelegschaft und der etwa 700 Zulieferer zu erhalten?

Ja, das ist realistisch, das hat die letzte Waggonbau-Insolvenz vor zehn Jahren gezeigt. Aber wie das in dem aktuellen Verfahren ausgeht, das weiß noch niemand.

Von den 100 Zeitarbeitern sind aber schon nicht mehr alle da? Die Zeitarbeitsfirmen sind ja auch Gläubiger.

Die meisten Firmen haben ihre Mitarbeiter bereits abgezogen. Deshalb ist auch ein Schichtsystem rund um die Uhr gar nicht mehr möglich.

Sie haben am Donnerstag mit dem Insolvenzverwalter gesprochen. Worum ging es da?

Ja, wir hatten ein längeres Gespräch, bei dem es um die wichtigsten Fragen ging, die den Kolleginnen und Kollegen am Herzen liegen wie Urlaubsansprüche, Zeitarbeitskonten, Betriebsvereinbarungen. Das konnte zu dem Zeitpunkt nicht hundertprozentig geklärt werden. Aber in der kommenden Woche steht das an.

Die Tarifverhandlungen ruhen auch?

Die Situation zwingt uns zurzeit dazu. Wir haben im Waggonbau einen Haustarif, der 25 Prozent unter dem Metall-Tarif liegt. Wir werden nicht lockerlassen, eine Angleich an den Flächentarifvertrag zu erzielen.

Eine übertragende Sanierung ist das Ziel des Insolvenzverwalters, und das bedeutet doch, schnellstmöglich einen Investor zu finden. Viele haben die Sorge, dass möglicherweise jemand aber nur das Nieskyer Know-how übernehmen möchte ...

Natürlich verstehe ich diese Sorge, ich persönlich gehe davon aus, dass es ein strategischer Investor sein sollte, der die Firma neu aufstellt und voranbringt.

Bis dahin fleißig weiterarbeiten an Aufträgen, die rote Zahlen bringen, das geht doch auch nicht?

In den nächsten Tagen und Wochen müssen intensive Kundengespräche geführt und bei solchen Aufträgen nachverhandelt werden. Das kann ein Insolvenzverwalter machen.

Die Görlitzer Waggonbauer und Siemens-Mitarbeiter trommeln und demonstrieren. Werden das die Nieskyer auch tun?

Niesky befindet sich in einem gerichtlichen Verfahren, das ist bedeutend schwieriger. Die Görlitzer Kollegen können einiges bei den Vorständen bewirken. Aber trotzdem werden wir Waggonbauer natürlich mit der IG Metall zu geeigneten Anlässen präsent sein. Wann, das erfahren Sie zu gegebener Zeit. Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass dann die Nieskyer Bevölkerung zeigt, dass sie hinter uns steht.