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Wilsdruffs Bruchpilot

Beim ersten Ausflug brach sich der Jungstorch einen Flügel. Jetzt wird er von Experten versorgt – fern seiner Heimat.

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Von Annett Heyse

Wilsdruff. Da hatten Wilsdruffs Weißstörche endlich einmal Glück gehabt: Nach etlichen Misserfolgen beim Brüten gab es im Nest nahe dem Kleinbahnhof an der Freiberger Straße dieses Jahr sogar zwei Jungtiere. Viele Wilsdruffer beobachteten seit Mai gespannt, wie die Kleinen erst die hungrigen Schnäbel ihren Eltern entgegenreckten, dann neugierig über den Rand des Horstes schauten und schließlich gut sichtbar in dem Nest standen. Am 1. August, so berichten Beobachter, wagte sich das größere der beiden Storchengeschwister zum ersten Mal aus dem Nest heraus und drehte ein paar Runden. Als Jungstorch Nummer zwei am 6. August den ersten Flug antrat, folgte der große Schreck.

Wilsdruffs Storchenkind hat vorübergehend im Storchenhof Loburg ein Zuhause gefunden. Der rechte Flügel ist mehrfach gebrochen. Wer möchte, kann gegen einen Jahresbeitrag eine Patenschaft übernehmen.
Wilsdruffs Storchenkind hat vorübergehend im Storchenhof Loburg ein Zuhause gefunden. Der rechte Flügel ist mehrfach gebrochen. Wer möchte, kann gegen einen Jahresbeitrag eine Patenschaft übernehmen. © Foto: Storchenhof

„Er krachte gegen das Bahnhofsdach und fiel auf das Auto einer Familie, die gerade beim Aufräumen nach einer Schuleinführungsfeier war“, berichtet Mario Gnannt. Er ist für die Vermietung des Kleinbahnhofs zuständig, wo die Familie den Tag zuvor gefeiert hatte, und wurde von ihr angeklingelt. Den Absturz beobachtet hatte auch ein Naturfreund aus Tharandt, der öfters die Vorgänge im Horst verfolgt und fotografiert. Er eilte ebenfalls herbei.

Der Storch – bewusstlos oder tot, das wusste zu dem Zeitpunkt keiner – wurde von der Familie in eine Decke gepackt, berichtet Mario Gnannt weiter. Übers Internet fischten sich die Wilsdruffer die Notruf-Nummer der Wildvogelauffangstation aus dem Internet. Die wird vom Umweltzentrum Dresden betrieben und liegt im Stadtteil Kaditz. „Der Tharandter Naturfreund hat dann das Tier ins Auto gelegt und ist damit losgefahren“, berichtet Mario Gnannt. Mitten auf der Autobahn sei der Vogel zu sich gekommen, aufgestanden und habe geklappert. Immerhin.

Denn die Experten in Kaditz stellten eine schwere Verletzung des sogenannten Rahmenbeines fest. „Der Flügel ist mehrfach gebrochen. Das ist eine schmerzhafte Verletzung“, erklärt Laura Hannß, Mitarbeiterin der Vogelstation. Ob der Storch einfach nur ungeschickt war, ihn die Kräfte verließen oder ob er vom Wind gegen das Bahnhofsdach getrieben wurde, ist unklar. „Er ist auch nicht der kräftigste, aber im flugfähigen Alter. Sein Gefieder ist normal entwickelt“, berichtet Hannß.

Auskurieren auf dem Storchenhof

Der Wilsdruffer Bruchpilot wurde erst einmal in eine Voliere gebracht, um sich zu beruhigen und zu Kräften zu kommen. Dort blieb er eine Woche und teilte sich sein Krankenzimmer mit einem Schwarzstorch. Am vergangenen Dienstag brachten ihn die Dresdner nach Loburg in Sachsen-Anhalt.

In dem Dorf östlich von Magdeburg gibt es seit 1979 einen Storchenhof. Mehr als 1 700 verletzte oder kranke Störche, Eulen und Reiher hat man hier schon aufgenommen und gesund gepflegt. Der Adebar aus Wilsdruff war Zugang 1 747. Und um ihn steht es gar nicht so schlecht. „Er wird auf jeden Fall überleben“, sagt Mitarbeiter Paul-Michael Leißner.

Ob er auch wieder fliegen kann, ist allerdings unklar, wenn nicht gar unwahrscheinlich. „Bei solch großen Vögeln gelingt es sehr selten, sie nach einem Flügelbruch zum Fliegen zu bringen“, berichtet Leißner. Im vergangenen Jahr sei das einmal gelungen und das Tier anschließend ausgewildert worden. „Das ist natürlich auch beim Wilsdruffer Storch das Ziel, aber wir müssen damit rechnen, dass der Vogel Fußgänger bleibt.“ So tragisch das erst einmal klingt: Störche verbringen von Natur aus einen Teil ihres Lebens am Boden, schreiten für die Nahrungssuche durch Wiesen und über Äcker.

In solchen Fällen werden die Störche vom Storchenhof früher oder später an Tierparks abgegeben. Damit habe der Bruchpilot gute Chancen auf ein langes Leben, so Experte Leißner. Denn die meisten Jungstörche überstehen die ersten drei Lebensjahre, die sie nach ihrem Abflug in Afrika verbringen, nicht. „Nur zwanzig Prozent kehren überhaupt nach Deutschland zurück.“ Dann allerdings haben sie eine Lebenserwartung von gut 20 Jahren. Tiere in Gefangenschaft dagegen können sogar die 30 überschreiten.

Ob der Wilsdruffer Storch ein Mädchen oder Junge ist, ist derweil unbekannt. Die Tiere unterscheiden sich weder als Küken noch im Erwachsenenalter optisch. Leißner: „Um das herauszufinden, müsste man ihm eine Feder abnehmen und zum DNA-Test einschicken.“ Das würde aber nur gemacht, wenn Zoos gezielt nach männlichen oder weiblichen Tieren fragen. Und so hat Nummer 1 747 in Loburg auch noch keinen Namen. Wer einen vergeben möchte, kann das im Zuge einer Patenschaft machen. Die kostet 50 Euro im Jahr und wird in Futter-, Unterbringungs- und Tierarztkosten gesteckt.

Und die Familie des Wilsdruffer Unglücks-Storches? Die bereitet sich auf den Abflug nach Afrika vor. Ende August dürften die Eltern und das Storchenkind verschwunden sein. Erst Mitte April ist mit der Rückkehr der beiden Altvögel zu rechnen.

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