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Wildes Riesa

Fuchs, Nutria und Reh haben sich in der Stadt eingerichtet. Das bringt Probleme mit sich – für Mensch und Tier.

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© SZ-Archivfoto: Schröter

Von Stefan Lehmann

Riesa. Der Geländewagen hat gerade erst die Wohnbebauung hinter sich gelassen, als Gerhard Herrmann auch schon abrupt stoppt und durch das Seitenfenster nach links zeigt. Das Reh, das eben noch am Feldrand gegrast hat, hebt etwas verdutzt den Kopf, wartet einen Augenblick, und nimmt dann Reißaus in Richtung Reußner Berg. „Weil wir stehengeblieben sind“, erklärt Herrmann. An den fließenden Verkehr haben sich die Tiere längst gewöhnt.

© SZ/Grafik

Ob Reh, Waschbär oder Fuchs: Wildtiere fühlen sich in Deutschlands Städten oft nicht weniger wohl als in den Wäldern. Riesa bildet da keine Ausnahme. Kaum einer dürfte das besser wissen als Gerhard Herrmann. Er ist Jagdpächter in Riesa, sein Revier reicht vom Canitzer Flugplatz über Weida, Merzdorf und Gröba bis nach Forberge. Wer Riesas wilde Seite kennenlernen möchte, muss vor allem früh aufstehen. Im Morgengrauen sind die Chancen am günstigsten, auch wirklich Wildtiere zu sehen. Ergiebig sind die Gebiete, in denen sie schnell Deckung finden – etwa an der Döllnitz. Wie zum Beweis schnürt gleich zu Beginn der Tour ein Fuchs vom Parkplatz neben dem Seifenwerk ins Gebüsch. „Die sieht man wirklich überall im Stadtgebiet“, erzählt Gerhard Herrmann. Auf der Futtersuche legen sie weite Strecken zurück, sind deshalb recht auffällig. „Ein Tier ist auch schon öfter die Hauptstraße lang spaziert.“ Andere Arten führen ein heimlicheres Leben. Den eher standorttreuen Waschbär bekommt man seltener zu Gesicht, obwohl die Population größer ist.

Die Fahrt führt weiter nach Forberge und dann die Elbe entlang. Die Flussufer sind beliebt bei Rehwild, doch an diesem Morgen taucht ein anderer Bewohner des Riesaer Umlands im Scheinwerferlicht auf, mitten auf dem Weg. Der lange Schweif und das auffällige Kopfgefieder machen es selbst dem Laien einfach, den Fasan zu erkennen. „Hier sieht man relativ häufig Fasane“, sagt Herrmann. „Sie finden hier ein gutes Biotop.“ Meist sehe man nur die größeren, auffällig gefiederten Männchen. Vor Jahren hatte der Tierpark einige der Vögel ausgewildert – offenbar mit Erfolg. Es ist nicht die einzige Seltenheit in der Stadt. Vor einigen Monaten hatten Ornithologen im Stadtpark die Wasseramsel nachgewiesen. Der Vogel fühlt sich an der Jahna offenbar wohl – anders als viele größere Wildtiere. „Im Stadtpark ist einfach zu viel Begängnis“, weiß Gerhard Herrmann. Dagegen fänden etwa Rehe entlang eines Korridors von der Steinstraße in Gröba über das Hafengelände bis zum ehemaligen Kohlehandel genügend Rückzugsmöglichkeiten. Auf relativ konstant 40 Tiere schätzt Gerhard Herrmann die Zahl der Rehe, die ihren Lebensmittelpunkt in der Stadt haben.

Der Jäger hat festgestellt, dass die Stadt-Rehe oft besser genährt sind als ihre Artgenossen draußen auf dem Land. Dafür haben sie hier andere Probleme. „Auf dem Land überleben rund 70 Prozent der Kitze das erste Jahr, in der Stadt nur etwa 30.“ Den Rest holt der Fuchs, dem sich im Stadtgebiet schwerer ausweichen lässt. – Gefahr droht auch durch den Straßenverkehr. „Normalerweise schauen Rehe sehr genau, bevor sie über die Straße gehen. Aber es sind Fluchttiere: Wenn sie etwas erschreckt, laufen sie in Panik los.“ Insbesondere Ende April sei das der Fall. Dann tragen die Rehböcke ihre Revierkämpfe aus – und der Verlierer überquert auch mal völlig kopflos die Straße – teils mit tödlichen Folgen. Allein an der Rostocker Straße gebe es vier bis fünf Wildunfälle im Jahr, sagt Herrmann. Das sind nicht die einzigen Probleme im Zusammenleben zwischen Mensch und Tier. „Wildtiere sind für den Menschen nicht ungefährlich, sie können Krankheiten übertragen und Sachen beschädigen“, heißt es dazu aus der Unteren Jagdbehörde des Landratsamts. Nutrias, die etwa an der Döllnitz vorkommen, sind wegen ihrer Grabe-Aktivitäten vor allem der Flussmeisterei ein Dorn im Auge.

Umgekehrt macht auch der Mensch den Tieren das Leben unnötig schwer, betont Gerhard Herrmann, während der Geländewagen in den Alten Pfarrweg in Weida einbiegt. Hier seien öfter Feldhasen zu beobachten. „Ich habe schon einige Anrufe bekommen, weil Anwohner kleine Hasen gefunden haben.“ Unnötig, denn die Mutter komme zum Stillen vorbei, ähnlich wie bei Rehen. Auch der enge Kontakt zu Nutrias hat schon Ärger gemacht. „An der Reußner Straße gab es eine Stelle, an der sie gefüttert wurden.“ Beim Betteln nach Futter seien die Tiere richtig aufdringlich geworden – ein untypisches Verhalten für Wildtiere, selbst in der Stadt.

Der Grund für die Landflucht vieler Wildtiere sei vor allem der knapper werdende Lebensraum, sagt der Jäger. Die großen Rapsfelder rings um die Stadt sind ein gutes Tagesversteck zum Wiederkäuen. Futter finden die Tiere dort aber nicht. Gegen Ende der Tour durchs Jagdrevier holpert der Geländewagen noch einmal über einen Feldweg nahe der B 169. Herrmann deutet auf eine Gruppe aus Bäumen und Hecken, eine grüne Insel mitten auf dem Acker. Davon würde er gerne mehr sehen.