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Wie Killer zu Medienstars wurden

Augenzeugen glaubten, es werde ein „Tatort“ gedreht: Doch die Geiseln waren echt, die Pistolen der Gangster geladen. Vor 30 Jahren hielt das Gladbecker Geiseldrama die Nation in Atem.

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© dpa/Hartmut Reeh

Von Helge Toben, Gladbeck

Wo Brigitte Gräber in ihrem Blumenladen „Grüne Oase“ heute Rosen verkauft, dort hat vor 30 Jahren eines der spektakulärsten Verbrechen der Nachkriegszeit begonnen: das Gladbecker Geiseldrama. 54 Stunden voller Verzweiflung, Sensationsgier, Medien- und Polizeiversagen nehmen am Morgen des 16. August 1988 im nordrhein-westfälischen Gladbeck ihren Anfang: Mit Maschinenpistolen bewaffnet überfallen Hans-Jürgen Rösner (damals 31) und Dieter Degowski (damals 32) im Stadtteil Rentfort-Nord eine Deutsche-Bank-Filiale und nehmen zwei Angestellte als Geiseln. Wenig später umstellt die Polizei die Filiale. Die Gangster geben ein erstes Telefon-Interview. Als die beiden Männer dann am Abend mit ihren Geiseln flüchten, lassen sie noch in Gladbeck ihre Komplizin Marion Löblich zusteigen. Die Flucht geht Richtung Norden, Polizei und Journalisten bleiben ihnen auf den Fersen. An einer Haltestelle in Bremen-Huckelriede kapern sie einen Nahverkehrsbus mit 32 Fahrgästen. An der Raststätte Grundbergsee dürfen die Bankangestellten gehen. Als die Polizei Löblich überwältigt und vorübergehend festhält, tötet Degowski den 15-jährigen Italiener Emanuele de Georgi mit einem Kopfschuss.

Am Donnerstagmorgen erhalten die Kidnapper in den Niederlanden ein neues Fluchtauto, bis auf zwei junge Frauen werden fast alle Geiseln freigelassen. Am Vormittag erreichen die Verbrecher Köln. Im Gespräch mit Journalisten in einer Fußgängerzone drohen sie, „zu allem entschlossen“ zu sein. Sie fahren später Richtung Frankfurt davon. Auf der A3 bei Bad Honnef rammt die Polizei das Auto um kurz vor 14 Uhr. Es kommt zu einer Schießerei. Die 18 Jahre alte Silke Bischoff wird dabei von Rösner getötet.

Über live ausgestrahlte Fernseh- und Radiointerviews des Trios, an seiner Seite Geiseln in Todesangst, nahm Westdeutschland am Verbrechen teil. Der Presserat legte später fest, dass es Interviews mit Tätern während des Geschehens nicht geben darf. Der Polizei wurde hinterher vor allem vorgeworfen, die Geiselnahme nicht schon viel eher bei mehreren Gelegenheiten beendet zu haben. Die Polizeibehörden überarbeiteten grundlegend ihre Einsatztaktik.

Rudolf Esders kann sich gut an das Drama erinnern. Am Landgericht Essen führte er von August 1989 an als Vorsitzender Richter den Strafprozess gegen die drei. Der mittlerweile 78 Jahre alte Jurist erzählt von dem Prozess, als wäre er erst kürzlich zu Ende gegangen und nicht schon im März 1991. Etwa von dem Tod des 15-jährigen Italieners Emanuele di Giorgi, der sich im Bus schützend vor seine Schwester gestellt hatte. „Er war Degowski negativ aufgefallen, weil er nicht unterwürfig genug war.“ Degowski habe immer gesagt, das sei ein Versehen gewesen. Esders glaubte ihm nicht: Der Schuss wurde aus zehn Zentimetern Entfernung abgefeuert. „Wenn man eine Kanone in der Hand hat, spürt man Macht und will die ausleben. Macht verführt.“

Degowskis lebenslange Haft wurde 2017 zur Bewährung ausgesetzt. Im Februar 2018 wurde er mit neuer Identität aus der Haft entlassen. Rösner, bei dem zusätzlich Sicherungsverwahrung angeordnet worden war, hat ebenfalls einen Antrag auf Entlassung gestellt. Löblich, zu neun Jahren Haft verurteilt, hat ihre Strafe längst abgesessen. Auch sie bekam eine neue Identität. (dpa)