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Wie Imre Mecs den Ungarn-Aufstand überlebte

Nach wenigen Tagen walzten sowjetische Truppen die Revolution vom Oktober 1956 nieder.

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© dpa

Von Gregor Mayer, Budapest

Als am 23. Oktober 1956 ein langer Zug von Studenten der Technischen Universität stumm zur Statue des polnischen Freiheitskämpfers Jozef Bem (1794-1850) am Budaer Ufer der Donau schritt, ahnte der 23-jährige Imre Mecs: Große Umwälzungen bahnten sich an. Die am Vorabend spontan beschlossene Kundgebung galt der Solidarität mit den Arbeitern in Polen, die gegen die sowjetische Vorherrschaft in ihrem Land protestierten.

„Damals war es völlig undenkbar, dass irgendjemand außer der herrschenden Kommunistischen Partei (KP) zu einer Demonstration aufrief“, erinnert sich 60 Jahre später der heute 83-jährige Mecs in seinem Haus am Rande von Budapest. Drei Jahre nach Stalins Tod war Ungarns KP immer noch stalinistisch und ihrer Sache sicher. „Dass es an den Universitäten, unter den Intellektuellen der Partei gärte, nahm die Parteiführung einfach nicht wahr“, sagt Mecs, damals Hörer der Elektrotechnik im letzten Jahr.

Tausende kleine Leute dabei

Die Demonstration der Technik-Studenten zog eine große Massenkundgebung vor dem Rundfunkgebäude nach sich. Das Regime reagierte nun in Panik, ließ in die unbewaffnete Menge schießen. Dies löste einen bewaffneten Aufstand aus, der die kommunistischen Machtstrukturen hinwegfegte, weil sich fast jeder den Aufständischen anschloss. Es bildete sich eine Revolutionsregierung unter Führung des angesehenen Reformkommunisten Imre Nagy, unter Einbindung der zuvor verbotenen demokratischen Parteien.

„In Wirklichkeit gab es keine großen Führer“, erzählt Mecs. „Es entstand eine Riesenzahl von Arbeiterräten und Revolutionskomitees. Tausende kleine Leute nahmen an ihrer Arbeit teil. Jeder wusste, was er zu tun hatte. Man brauchte, wie es der Staatsminister der Nagy-Regierung, Istvan Bibo, später im Gefängnis formulierte, ,niemanden zu instruieren‘. Die Forderungen waren klar: Freiheit und Demokratie.“

Schon nach wenigen Tagen, am 4. November, walzte die Sowjetunion dieses einzigartige Experiment einer von unten wachsenden Demokratie in ihrem Machtbereich mit Panzern blutig nieder. „In Millionen Menschen löste diese brutale Aggression eine riesige Wut aus“, berichtet Mecs. „Ich ging in den Untergrund. Wir sammelten die Überreste der bewaffneten Gruppen zusammen, um den Widerstand gegen die Sowjets zu organisieren.“

Die erhoffte Hilfe aus dem Westen – wie sie vor allem der US-Radiosender Free Europe suggeriert hatte – blieb jedoch aus. Der Widerstand brach zusammen, die Kämpfer wurden nach und nach verhaftet. So auch Mecs, der Mitte Mai 1958 gefasst und wenige Tage darauf zum Tode verurteilt wurde. Die Rache-Justiz des unter Janos Kadar restaurierten kommunistischen Systems lief auf Hochtouren. Mehr als 200 Teilnehmer des Volksaufstands wurden hingerichtet, unter ihnen auch Imre Nagy, 24 000 weitere erhielten meist längere Gefängnisstrafen.

Mecs kam in den Todestrakt in einem abgesonderten Teil des Gefängnisses in der Budapester Kozma-Straße. „Auch ich bereitete mich auf den Tod vor. Auf die letzten Worte, die man den Zellengenossen auf dem Weg zum Galgen zurief“, erinnert er sich. Dass sich seine eigene Hinrichtung hinauszögerte, war sein Glück. Seine Mutter und ein Onkel berichteten dem Komponisten Zoltan Kodaly (1862-1967) von den eigentlich geheimen Todesurteilen.

Kodaly hatte schon Juden im antisemitischen Horthy-Regime und Mönche zur Zeit der stalinistischen Kirchenverfolgung gerettet. Ungarns wechselnde totalitäre Regimes schmückten sich mit dem weltbekannten Komponisten und Musikpädagogen, was es ihm ermöglichte, sich mehr herauszunehmen als andere. Im Falle von Mecs intervenierte er bei der KP-Führung. „Diese Serie von Justizmorden sollte ein Ende haben“, schrieb er in einem Brief im Dezember 1958, in dem er den jungen Mecs namentlich erwähnte.

Tatsächlich wurde das Urteil gegen den Elektrotechnik-Studenten im Februar 1959 in lebenslänglich umgewandelt. 1963 kam er im Rahmen einer allgemeinen Amnestie für die Revolutionsteilnehmer frei. Nach der demokratischen Wende 1989/90 wurde Mecs in den Farben der links-liberalen Freidemokraten ins Parlament gewählt, dem er bis 2010 als Abgeordneter angehörte. Denn das ist seine Lehre aus 1956: „Man muss am öffentlichen Leben teilhaben. Die anständigen Menschen dürfen es nicht aus der Hand geben.“

Heute wieder auf der Straße

Gründe, sich weiter einzumischen, gibt es auch 60 Jahre nach dem Aufstand. Anfang Oktober erfahren Mecs und seine Frau, die Dramaturgin Fruzsina Magyar, dass die führende Oppositionszeitung Nepszabadsag überraschend eingestellt wurde. Schon wenige Stunden später stehen die beiden auf dem Kossuth-Platz vor dem Parlament, inmitten einer Demonstration für die Pressefreiheit, gegen die zunehmend autoritäre Regierung des rechten Ministerpräsidenten Viktor Orban. Dieser dulde keine kritische Presse, damit die korrupten Praktiken seiner Spitzenpolitiker und ihrer Familien unentdeckt bleiben, lauten die Vorwürfe.

Der österreichische Besitzer hatte sich auf die wirtschaftlichen Verluste des Blattes berufen. Die Mitarbeiter vermuten aber, dass die Schließung politisch motiviert war. „Die Nepszabadsag zusperren? Nein, das können wir doch nicht hinnehmen“, sagt Mecs bei der Verabschiedung vor seinem Haus. (dpa)