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Wie Ida Mosszizki zu Judy Benton wurde

Von einem Moment auf den anderen muss eine 17-Jährige erwachsen werden. Teil 2 der Serie zu Meißner Stolpersteinen.

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© Claudia Hübschmann

Von Dominique Bielmeier

Meißen. Es war die Haube, die sie rettete. Wer kann heute sagen, ob ohne die Haube nicht noch ein weiterer messingbeschlagener Gedenkstein in das Pflaster vor der Elbstraße 28 eingesetzt worden wäre. Name darauf: Ida Mosszizki. Lebensweg in drei Schlagworten: Deportiert. Auschwitz. Ermordet. Wie ihre Eltern Leib und Rebekka.

Judy Benton, Tochter der Familie Mosszizki, bei einem Besuch in Meißen.
Judy Benton, Tochter der Familie Mosszizki, bei einem Besuch in Meißen. © hübschmann
Stolpersteine auf der Elbstraße.
Stolpersteine auf der Elbstraße. © Claudia Hübschmann
Das ehemalige Wohnhaus der Familie Mosszizki in der Elbstraße 28.
Das ehemalige Wohnhaus der Familie Mosszizki in der Elbstraße 28. © Claudia Hübschmann

Für sie gibt es Steine, sie tragen die Namen Leo und Regina. „Absichtlich habe ich die deutschen Vornamen gewählt, um so deutlich zu machen, dass sie zu uns gehörten“, schrieb Stadtchronist Gerhard Steinecke, der sich jahrelang für die Stolpersteine einsetzte, 2012 in einem Brief. Auch Ida Mosszizki gehörte einst zu uns. Bis zu der Sache mit der Haube.

Idas Schicksal entschied sich an einem Tag im Jahr 1939. Es war ein Schultag und Unterricht war für die 17-Jährige immer „ein Vergnügen“ gewesen, wie sie viele Jahre später in ihrer Lebensgeschichte festhielt. Doch die Zeiten hatten sich geändert, aus einer der Besten in ihrer Klasse war eine „dreckige Jüdin“ geworden, so stand es sogar auf ihrer Bank im Klassenzimmer geschrieben. Ihre Mitschüler waren allesamt in der Hitlerjugend, und wenn ein Lehrer die Rassenlehre beschrieb, musste Ida als lebendes Anschauungsobjekt herhalten. Der Jude, so erklärte er, habe dunkles Haar, eine große Hakennase und einen runden Daumen vom Geldzählen.

Das Geschäft der Eltern, die vor den Pogromen aus Polen und Russland nach Meißen geflohen waren, musste bereits 1937 geschlossen werden. Am Theaterplatz 13 verkauften sie chemische Artikel, Seife, Kerzen, Bohnerwachs und Schuhcreme. Die immer schärfer werdenden Judengesetze machten ihnen das Leben immer schwerer. Der Höhepunkt ihrer Verfolgung war an besagtem Tag im Jahr 1939 erreicht.

Als Ida Mosszizki an diesem Tag von der Schule nach Hause kam, stand die Haustür der Elbstraße 28 offen, die Eltern waren verschwunden. „Ich habe sie nie wiedergesehen“, schreibt Ida Mosszizki. Erst nach dem Krieg erfuhr sie von deren Tod in Auschwitz. Sie waren in ein „Judenhaus“ in Dresden und später in das „Hellerlager“ gebracht worden, von wo aus sie am 3. März 1939 in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert, und sofort nach der Ankunft ermordet wurden. Eine Nachbarin erklärte ihr damals nur, was sie gesehen hatte: Sie seien von der Gestapo abgeholt worden. Und diese würde sicher wiederkommen, um auch die Tochter mitzunehmen.

Ida musste schnell handeln. Sie packte einen kleinen Koffer mit wichtigen Dokumenten und etwas Geld und machte sich auf den Weg zur jüdischen Gemeinde in Dresden. Dort erfuhr sie von einem Kindertransport, der noch am selben Tag nach England fahren sollte. Mit den Worten „Mach, dass du auf den Zug kommst“ im Ohr, fuhr Ida Mosszizki nach Leipzig.

Doch am dortigen Bahnhof angekommen, passierte etwas Seltsames: „Plötzlich wurde ich von manchen Eltern gebeten, ich sollte auf ihre Kinder gut aufpassen.“ Die anderen jüdischen Kinder, die in England von Pflegefamilien aufgenommen werden sollten, waren zwischen vier und zwölf. Ida, die bereits eine schöne junge Frau war, stach zwischen ihnen heraus, sie wirkte eher wie eine Betreuerin als ein fliehendes Kind. „So habe ich mir eine List ausgedacht“, schreibt sie in ihren Erinnerungen. In einem Puppengeschäft kaufte sie sich eine weiße Rot-Kreuz-Schürze und eine Haube, mit der sie aussah wie eine Krankenschwester. „Es war so ein Tumult und so rettete ich mir mein Leben.“

Einmal noch musste Ida Mosszizki um dieses fürchten. An der holländischen Grenze stiegen plötzlich SA-Männer mit Bajonetten zu. Ida fiel ein, dass es Juden verboten war, Schmuck zu tragen. So warf sie ihre goldene Kette mit dem Judenstern und ihren Ring aus dem Zugfenster. Doch die SA ging wieder und schließlich erreichte der Kindertransport London.

Die anderen Kinder wurden hier von jüdischen Kontaktpersonen abgeholt, viele Familien nahmen zwei oder drei Kinder auf, da sie es nicht übers Herz brachten, Geschwister zu trennen. Am Ende blieb Ida alleine am Bahnsteig zurück, ohne Sprachkenntnisse und nun ganz alleine auf der Welt. Doch irgendwann wurde auch sie abgeholt, ein „Gentleman“ brachte sie zu Woburn House, von wo aus das Asyl für die insgesamt fast 10 000 jüdischen Kinder der Transporte organisiert wurde.

Danach landete Ida Mosszizki zunächst in einem Hostel in London. Die Betten waren schmutzig und sie musste ihres mit anderen Kindern teilen, aber die Organisation schickte die junge Frau noch im selben Jahr auf eine landwirtschaftliche Hochschule. Dort lernte sie John Benton kennen, einen Flüchtling aus Berlin. Zwei Jahre später heirateten sie, erlebten den „Blitzkrieg“ in London, bekamen Kinder, Enkel. Aus Mosszizki wurde Benton und aus Ida Judy.

Judy Benton wird danach nie mehr in Deutschland leben, aber sie wird Meißen noch einige Male besuchen und ihre Geschichte erzählen. Auch als die Stolpersteine 2012 enthüllt werden, ist sie dabei. Eine enge Brieffreundschaft verbindet sie über viele Jahre mit Steinecke und dessen Frau.

Auch wenn der Name Ida Mosszizki nie in einen Stolperstein geschlagen werden musste, so ist er doch auf einem Gedenkstein zu finden: Das Mahnmal für die NS-Opfer im Käthe-Kollwitz-Park nennt Leib und Rebekka Mosszizki fälschlicherweise Joseph und Ida. Nach mehreren Hinweisen Steineckes erhielt er 2006 eine Erklärung von Bürgermeister Hartmut Gruner: Der Kulturausschuss habe beschlossen, „an dem Mahnmal als einem zwischenzeitlich selbst historischen Objekt keine Veränderungen vorzunehmen“. Es sollte „auch in seiner Fehlerhaftigkeit erhalten werden“. Für den mittlerweile von der Stolperstein-Odyssee enttäuschten Steinecke eine „fadenscheinige Begründung“.