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Wie Görlitz junge Leute anlockt

Arbeitsplätze und günstige Mieten sind nicht die einzigen Umzugsgründe. Gerade für kreative Leute zählen andere Dinge.

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© Pawel Sosnowski

Von Ingo Kramer

Görlitz. Als Magdalena Zielinska-König vor vier Jahren ihren ersten Studienabschluss in der Tasche hatte, wollte sie erst einmal ein freiwilliges Jahr absolvieren – irgendwo in Europa. „Dann bin ich auf eine FSJ-Stelle im Görlitzer Waldorfkindergarten gestoßen“, sagt die heute 27-Jährige. Sie recherchierte viel über die Stadt, fand die Lage an der Grenze spannend – und kam.

Lorenz Kallenbach (vorn) ist aus Dresden nach Görlitz gezogen. Mit seinen Mitstreitern vom Kollektiv KFünf werkelte er im September an der neuen Bar im Bahnhof Gleis 1.
Lorenz Kallenbach (vorn) ist aus Dresden nach Görlitz gezogen. Mit seinen Mitstreitern vom Kollektiv KFünf werkelte er im September an der neuen Bar im Bahnhof Gleis 1. © Nikolai Schmidt

Mehr als vier Jahre später ist sie noch immer hier. Das liegt zum einen daran, dass sie hier ihren heutigen Mann kennenlernte, der aus Süddeutschland stammt. Doch es ist mehr als das: „Ich habe in dem ersten Jahr viele interessante Leute aus Deutschland und Polen kennengelernt, auch viele Vereine und grenzüberschreitende Initiativen.“ Sie sah, dass auf dem Gebiet schon viel erreicht, aber auch noch viel zu tun ist. Also blieb sie, bewarb sich bei verschiedenen Institutionen, bekam beim Meetingpoint Music Messiaen zunächst ein dreimonatiges Praktikum und danach dann eine feste Stelle. Dort ist sie noch immer tätig, doch parallel unterstützt sie auch ihren Mann, der mit anderen Zugezogenen am Ladenkonzept für die neue Jakobpassage in der Ja-kobstraße arbeitet. „Ich finde es interessant, dass ich mich in Görlitz an verschiedenen Stellen entwickeln kann, ohne ein ganz großes Risiko aufzunehmen“, sagt Magdalena Zielinska-König. Nicht zuletzt gefällt ihr auch die Überschaubarkeit von Görlitz: „Ich habe in weitaus größeren Städten gelebt, doch hier habe ich alles, was ich brauche, und bin auch schnell in Polen.“

Lorenz Kallenbach hingegen hat die ersten 26 Jahre seines Lebens in Dresden verbracht. Dann hatte er sein Studium als Produktgestalter abgeschlossen – und kam als Leiter für einen Workshop beim Kreativcamp des Second-Attempt-Vereins nach Görlitz. Zwei Jahre ist das her und war anfangs nur für vier Wochen gedacht. Doch der heute 28-Jährige ist in Görlitz geblieben und längst bei vielen Initiativen aktiv.

All die Projekte und das Miteinander sind der Grund, warum er geblieben ist. „Das Spannende war gleich von Anfang an, dass ich hier nicht nur mit Jugendlichen aus Görlitz ins Gespräch gekommen bin, sondern auch mit Leuten von der Hochschule, der Stadtverwaltung, vom Werkbund NRW und vielen mehr“, sagt er. In Dresden seien die Abstände zwischen Politik, Verwaltung und Kreativszene riesig. Im viel kleineren Görlitz hingegen habe er viele Leute auf einem Haufen getroffen: „Das war für mich ganz schön überwältigend.“

Zudem mussten damals, vor zwei Jahren, viele Freiraumprojekte in Dresden schließen, weil sie sich die drastisch steigenden Mieten nicht mehr leisten konnten. All das erlebt Lorenz Kallenbach in Görlitz ganz anders: „Hoffentlich gibt es diesen Freiraum für Leute, die sich ausprobieren wollen, noch sehr lange.“ Er selbst ist in keinem Verein Mitglied geworden, sondern macht als Freiberufler an vielen Stellen mit. Momentan bietet er beim Ideenfluss-Verein als Trainer einen Kurs an, bei dem es um die Entwicklung von Perspektiven geht – für den Einzelnen, aber auch für die Region. Zudem hat er sich mit vier anderen Zugezogenen zum Kollektiv KFünf zusammengeschlossen und mehrere mobile Bars betrieben. Momentan laufen die Planungen für eine feste Bar. „Das ist jetzt eine ernste Sache, nicht nur so ein Test“, sagt er. Wer wie er über mehrere Jahre hier ist und den Freiraum nutzt, der könne richtige Zukunftsprojekte spinnen. Und nicht zuletzt hat Lorenz Kallenbach in Görlitz auch seine Freundin kennengelernt.

Doch es sind nicht nur die unter 30-Jährigen, die zum Bevölkerungswachstum beitragen. Christian Joseph, geboren in Köthen, aufgewachsen in Leipzig, ist zehn Jahre lang von Dresden nach Görlitz gependelt, weil er hier als Posaunist am Theater arbeitet. Voriges Jahr – mit 37 – hatte er genug von der Fahrerei. Er baute in der Südstadt ein Haus und zog mit Frau und drei Kindern nach Görlitz. Nun hat er kurze Arbeitswege. Von der Lebensqualität her hat es ihm die Neißestadt ohnehin angetan: „Ich fühle mich hier sehr wohl.“

Adam Cebula ist noch einmal zehn Jahre älter als Joseph. Er saniert gerade ein Haus in der Apothekergasse und will dieses Jahr einziehen. Der aus Bogatynia stammende und seit 1996 in Zgorzelec lebende Architekt spricht fließend Deutsch. „Görlitz ist meine Lieblingsstadt“, sagt Cebula – und seine Augen beginnen zu leuchten. Zgorzelec gefalle ihm längst nicht so gut.

Der Zuzug nach Görlitz macht sich auch in den statistischen Zahlen der Stadt bemerkbar. Zogen am Tiefpunkt im Jahr 1990 nur 1325 Menschen nach Görlitz, aber 3714 Personen von hier weg, so hat sich das Bild mittlerweile stark gewandelt. Im Jahr 2014 standen 2716 Zuzügen nur noch 2287 Wegzüge gegenüber. Und sogar bei den jüngeren Altersgruppen, die nach der Wende besonders oft abwanderten, sehen die Zahlen mittlerweile viel freundlicher aus. Im Jahr 2014 kamen 374 unter 18-Jährige, aber nur 321 zogen weg. Bei den 18- bis 30-Jährigen kamen 1068 Menschen, 958 zogen weg. So liegen Magdalena Zielinska-König und Lorenz Kallenbach nun voll im Trend.