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Wie ein Chor die Stimme jung hält

Der Görlitzer Eberhard Menzel hat den Lutherkirchenchor vor 70 Jahren mitbegründet. Er ist ihm sein Leben lang treu geblieben.

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© Pawel Sosnowski/80studio.net

Von Ines Eifler

Wer etwas über die Anfänge des Lutherkirchenchors erfahren will, muss Eberhard Menzel fragen. Der Görlitzer Tischlermeister singt seit dem Gründungstag darin mit, seit genau 70 Jahren. Damals, im Frühjahr 1947, war er zwölf Jahre alt und beeindruckte den damaligen Kantor mit seinem Sopran. „Wir waren vier Jungen im Sopran“, erzählt Eberhard Menzel. „Das war etwas ganz Besonderes.“ Alle vier waren aus freien Stücken, ohne das Zutun von Erwachsenen, dem Aufruf zur Gründung des Chors gefolgt.

Schon als der Lutherkirchenchor im Sommer 1951 für ein Foto posierte, war er mit dabei.
Schon als der Lutherkirchenchor im Sommer 1951 für ein Foto posierte, war er mit dabei. © privat

Den Anstoß dazu hatte der Pfarrer der Lutherkirche gegeben, ein Pastor Adler aus Breslau, der gerade aus Kriegsgefangenschaft zurückgekommen war. Auch der Kantor, Albert Neuhaus, stammte von östlich der Neiße, aus Görlitz-Moys. Und viele der 50 Männer, Frauen und Kinder, die sich zum Lutherkirchenchor zusammenschlossen, waren ebenfalls nach Görlitz geflüchtet. In der von Hunger und Not geprägten Nachkriegszeit muss die Chance, in einem Chor singen zu können, ein großes Glück für die Menschen gewesen sein, etwas Wunderbares, das Licht ins Dunkel brachte und über die Schwere der Zeit hinweghalf. Eberhard Menzel beschreibt seinen innigen Zugang zur Musik als etwas, das ihm auch später nie jemand nehmen konnte.

Noch immer ist er stolz auf seine Erlebnisse in den ersten Jahren mit dem Lutherkirchenchor. So legte Kantor Neuhaus am Heiligabend 1947 spontan fest, dass Menzel von der Orgelbank herab solo „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ singen solle. „Ohne Probe, in der vollbesetzten Kirche“, sagt Menzel. Auch freut es ihn noch heute, dass Pastor Adler zu ihm und den anderen Jungen sagte: „Ihr solltet im Kreuzchor singen.“

Daran war zu dieser Zeit nicht zu denken. Aber die Worte wirkten. Mit 15 Jahren begann Eberhard Menzel Gesangsunterricht bei einer älteren Dame zu nehmen, die er bis zu ihrem Tod jeden Montagabend im Martaheim auf der Konsulstraße besuchte. „Wenn ich kam, öffneten alle Bewohner die Zimmertüren, um die Musik zu hören“, erzählt Menzel. Bald war er jeden Abend in der Woche unterwegs, weil seine Stimme in so vielen Chören gefragt war. Erst im Kinderchor, dann im Bachchor, in dessen A-cappella-Chor, im Chor der Dreifaltigkeitskirche und kurze Zeit auch im Lehrerchor. „Nur in den Extrachor des Theaters wollte ich nicht“, sagt Menzel, „ich bin nun mal Kirchenmusiker.“

Da der Chor der Lutherkirche auch Probenchor der Hochschule für Kirchenmusik war, kam Eberhard Menzel über diese Verbindung beinahe dazu, in Dresden Musik zu studieren. Die Professoren der Musikhochschule lobten seine Musikalität und wollten ihn als professionellen Chorsänger ausbilden. Menzel aber entschied: „Entweder werde ich Solist oder es bleibt.“ So konzentrierte er sich auf die Tischlerwerkstatt in Görlitz, die er 1967 übernahm, und sein Singen in Laienchören. Um seine Stimme dennoch weiterzubilden, fuhr er vier Jahre lang jeden zweiten Sonnabend nach Dresden zu einer Gesangslehrerin.

Im Chor der Lutherkirche hatte sich einiges getan. In den Jahren, als kleinste „Vergehen“ als Hetze gegen den sozialistischen Staat gewertet wurden, war Kantor Albert Neuhaus in Schwierigkeiten geraten. Es hieß, er habe ein Wahlplakat beschädigt. Dafür ging er für anderthalb Jahre in den Bautzener Stasiknast. Danach verließ er die DDR. In dieser Zeit rückte der Chor der Lutherkirche enger zusammen und gestaltete auch ohne Kantor jeden sonntäglichen Gottesdienst.

Einen echten Leiter bekam der Chor der Lutherkirche erst wieder mit Kirchenmusikdirektor Erich Wilke Anfang der 60er Jahre, der das Ensemble bis heute mit hohem Anspruch führt. Die Zahl der Sängerinnen und Sänger ist inzwischen auf 19 geschrumpft, und die einst jungen Leute sind älter geworden. Aber nicht immer hört man das. „Singen hält die Stimme jung“, sagt Eberhard Menzel. Sein Sopran hat sich zwar im Laufe der Jahre in einen Bariton verwandelt, aber wenn der 82-Jährige in seiner Tischlerwerkstatt ans Telefon geht, wird er oft gefragt: „Darf ich mal Ihren Senior sprechen?“