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Wie Dresden zum Balkon Europas kam

Erst rund 200 Jahre darf das Volk die Brühlsche Terrasse betreten. Zu Beginn der 1990er war die Flaniermeile gesperrt.

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© SZ-Archiv

Von Lars Kühl

Wer heute eine neue Wohnung sucht, für den ist ein vorhandener Balkon oft ein entscheidendes Kriterium. Dabei haben alle Dresdner einen gemeinsam, noch dazu den eines ganzen Kontinents. Denn so heißt die Brühlsche Terrasse seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts: „Balkon Europas“. Ob zu hochtrabend, muss jeder Besucher für sich selbst entscheiden. Unstrittig beeindruckend ist jedenfalls nicht nur die Aussicht auf Elbe und Königsufer. Wer auf der rund 500 Meter langen Terrasse zwischen August- und Carolabrücke entlangflaniert, kann sich vorstellen, wie viele „Ahhs“ und „Ohhs“ die Runde machten, als die Dresdner vor gut 200 Jahren (1814) erstmals auf ihren Balkon durften.

Die Sanierung hat bis 1991 anderthalb Jahre gedauert.
Die Sanierung hat bis 1991 anderthalb Jahre gedauert. © Gunter Hübner
Heinz Eggert und Herbert Wagner (r.) gaben den Balkon Europas wieder frei.
Heinz Eggert und Herbert Wagner (r.) gaben den Balkon Europas wieder frei. © Gunter Hübner

Denn vorher war dies nicht möglich, die Terrasse war privat. Eigentlich ist sie Teil der großen Dresdner Festung, die im 16. Jahrhundert errichtet worden war. Als die Wallanlage nicht mehr zur Verteidigung gebraucht wurde, schenkte sie der Sohn von August dem Starken, Friedrich August II., 1739 seinem engsten Berater: Heinrich Graf von Brühl, der später Premierminister wurde, aber durch seinen extravaganten, ausschweifenden Lebensstil auch zum wirtschaftlichen Niedergang des sächsischen Kurfürstentums gehörig beigetragen haben soll.

Auch wenn diese These heute kontrovers diskutiert wird, wie es sich schön lebt, das wusste Heinrich von Brühl. Keinen Geringeren als Johann Christoph Knöffel, den Begründer des sächsischen Rokokos, beauftragte er mit der Gestaltung seines Privatgartens. Knöffel waren die Brühlschen Herrlichkeiten zu verdanken, die nach und nach gebaut wurden. Da wäre das Brühlsche Palais als „großartigstes und kostbarstes Beispiel des Dresdner Frührokoko“, wie es der Kunsthistoriker und honorige Denkmalpfleger Fritz Löffler später bezeichnen sollte. An dessen Stelle steht heute das nicht minder beeindruckende Ständehaus.

Die Brühlsche Bibliothek wurde erst durch ein weiteres Geschoss erweitert, später für die Kunstakademie umgebaut, 1897 aber abgerissen, damit die Sekundogenitur errichtet werden konnte. Zehn Jahre vorher hatte schon die Brühlsche Galerie das gleiche Schicksal ereilt, um die neue Kunstakademie zu bauen.

Bereits im Siebenjährigen Krieg war das Brühlsche Belvedere 1759 zerstört worden. Für Löffler galt das Lustschloss als Höhepunkt des hiesigen Rokokostils. An besagtem Standort, im Nordosten der Brühlschen Terrasse, standen vorher bereits eine und danach noch zwei weitere Belvedere-Variationen. Die letzte wurde 1945 bei der Bombardierung zerstört. Alle Wiederaufbaupläne, die es nach wie vor gibt, scheiterten seitdem. Geblieben von Brühls Herrlichkeiten ist dagegen der Garten, wenn auch auf der anderen Seite. Während er einst im Westteil der Terrasse angelegt wurde, ist er heute im Osten gestaltet – dort, wo das letzte Belvedere stand.

Die Treppen vom Schloßplatz, der Münzgasse und vom Georg-Treu-Platz aus wurden erst gebaut, nachdem die Brühlsche Terrasse für das gemeine Volk zugänglich war. Wer heute auf einer von ihnen auf den Balkon Europas steigt, hat nicht nur ein erhebendes Gefühl beim Blick zurück oder nach vorn, sondern der steht auch auf Dresdens wohl schönster Spaziermeile.

Die ist immer noch wichtigster Teil des Promenadenringes, der vor acht Jahren im Stadtrat beschlossen wurde, und der das historische Zentrum als Flanier- und Grünband irgendwann umschließen soll. Im neuen Doppelhaushalt sind jedenfalls fünf Millionen Euro dafür eingeplant.

Fest steht seit der Stadtratssitzung am Donnerstag auch, dass die Brühlsche Terrasse endlich einen barrierefreien Zugang bekommt. Dazu wird ein Fahrstuhl im Ständehaus gebaut. Der Freistaat Sachsen stellt dafür 1,5 Millionen bereit, die Stadt Dresden 500 000 Euro. Dass die Brühlsche Terrasse heute nichts von ihrer weltweiten Anziehungskraft eingebüßt hat, ist auch einer anderthalbjährigen Komplettsanierung zu verdanken. „Dresden ist wieder Dresden“, schrieb die Sächsische Zeitung am 29. November vor 25 Jahren – einen Tag nach der Freigabe durch den damaligen Oberbürgermeister Herbert Wagner und den sächsischen Innenminister Heinz Eggert. In drei Abschnitten waren binnen anderthalb Jahren für 8,3 Millionen D-Mark 7 000 Quadratmeter Sandstein- und Granitplatten, Mosaike, die Brüstung und Mauern erneuert und gesäubert worden.

Neben Brunnen und zahlreichen Plastiken können die Balkonwandler auch Kurioses sehen. Am Bärenzwinger hinter dem zum Albertinum ausgebauten ehemaligen Zeughaus lässt sich ein Fingerabdruck im Geländer finden – angeblich von August dem Starken höchstselbst mit seiner überproportionalen Manneskraft einfach so hineingepresst. Eine gern erzählte Legende – nur leider nicht wahr. Denn die Brüstung wurde erst um 1900 angebracht.