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Wie die Welt nach Wuischke kam

Kito Lorenc war in zwei Sprachen zu Hause am Dichten und Denken. Am Wochenende ist er gestorben.

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© Wolfgang Wittchen

Von Karin Großmann

Es sieht aus, als würde die niedrige Balkendecke von den Bücherstapeln getragen. Das Fachwerkhaus duckt sich gegen den Berg. Dunkler Fichtenwald steigt hinan. Feldsteine pflastern den Hof. Wuischke heißt der Ort in der Nähe von Bautzen, übersetzt: kleine Ausfahrt. Was heißt denn klein? Die Ausfahrt, die Kito Lorenc nahm, führte über alle Grenzen und Himmel hinweg geradewegs in den Olymp der Literatur. Denn Wörter können Flügel verleihen. Wer zwei Sprachen hat, fliegt umso höher.

Am Sonntag ist der Schriftsteller Kito Lorenc an den Folgen eines Schlaganfalls gestorben. Nächstes Jahr wäre er achtzig geworden. Der Tod, heißt es in einem seiner Texte, ist ja auch ein Sein: das Tod-Sein. So hat er jedes Wort hin und her gewendet, hat nach dem Ursprung gegraben und damit jongliert, bis sich ein neuer Sinn öffnete. Das war ihm ernst und war Spiel zugleich. Als ein Eskimo auf der Scholle mit seinen sechzig Begriffen für Eis und Schnee prahlte, konterte Kito Lorenc mit allem, was das Sprudeln, Spritzen, Rauschen, Rieseln und Fließen benennt. Die Geschichte ist eine Traumgeschichte, wie Lorenc sie oft notierte. In den Träumen kehrte er zum Märchenblau seiner Kindheitstage zurück, zu Schuppenwand und Gänsebadsuhle, zu Eltern und Großeltern. Wenn ihm langweilig war, erfand er Vögel, die sich einen Ast lachen und noch einen, bis ein Wald daraus wächst, zum Drinverschwinden.

Bei Verwandten Sorbisch gelernt

Schon als Kind, erzählte Kito Lorenc bei einem Besuch in seinem Schreibgehäuse, schon als Kind hätte er gern in einer anderen Sprache geträumt. Er erfand sich eine. Doch das galt nicht. Lorenc, geboren in Schleife bei Weißwasser, wurde nach Radibor zu Verwandten geschickt. Dort sollte er Sorbisch lernen. Es war eine Entscheidung für das andere, für die Minderheit und das Slawentum. Da war er zehn und hörte fleißig zu, wie die Dorfjungen redeten. Sonntagsfein war das bestimmt nicht immer. Doch das genaue Zuhören und auch das Hinschauen bewährte sich und wurde das wichtigste Handwerkszeug für den Dichter. Denn ein großer und sprachmächtiger Dichter war er, auch wenn er das Wort nicht mochte. Sich so zu nennen, sei eine Zumutung, Belästigung, „volljähriger Unfug“. Dichter, so Kito Lorenc, riechen nach Schreibschweiß. „Jeder Hausmeisterservice, Schlüsseldienst, bereits ein Haarstudio wirft da mehr ab“, spottet er in einem Gedicht. Wenn schon, dann Schriftsteller, „das macht eher was her“.

Kito Lorenc also machte doppelt was her, denn vor ihm hat kein anderer Schriftsteller so virtuos das Deutsche und das Sorbische in einem Gedicht zusammengebracht. Die eine Sprache, meinte er, taugt für Behördengänge und philosophische Gedanken, die andere für Haus und Garten und den Nussbaum im Hof. Jede kann was, was die andere nicht kann. Manche Sprachbilder stellen sich quer. Andere liebäugeln miteinander. Verwandtschaft findet sich. „Ein Teufel ruft den anderen herbei“, so erklärte es Kito Lorenc, „das ist wie bei einer Kettenreaktion. Das sind die glücklichen Fälle – wenn man nicht basteln muss. Man liegt ohnehin ständig auf der Lauer nach dem richtigen Wort.“ Wenn es sich einstellte, griff er sogar beim Kalauer zu. „Da bin ich nicht vornehm.“

Auf Versöhnung war der Autor in seinen Gedichten und Prosatexten nie aus. Er ließ es splittern und krachen und stieg mit grimmigem Frohsinn durch den Wald, den ein Sturm grün und blau geschlagen hatte. Mit Zorn erzählte er von seinem Kindheitsfluss. Der Kohletagebau hatte die Struga in ein trübes Abwasser verwandelt. Schon Anfang der Siebzigerjahre schrieb er in der DDR gegen Naturvernichtung an: „aber wenn ihr weint, dann weint im Regen – da fallen die Tränen nicht so auf“. Sein Widerstand war leise, doch unüberhörbar.

Arbeitete als eigener Übersetzer

Gerade weil Kito Lorenc von Heimat schrieb, verweigerte er die Harmonie. Jede Herkunftstümelei war ihm fremd. Bloß keine hochgestimmte Romantik. Wo der Hasenpfeffer wächst und die Krause Glucke überm Pfifferling brütet, fühlte er sich zu Hause. Er war ganz bei sich, wenn er im Gedicht den Hund dort ausbuddelte, wo er begraben liegt. „Ich steh auf Messers Schneide/ knietief in der Kreide …“

Lorenc kannte die lyrischen Formen und pfiff darauf. Da steht kein Wort zu viel auf der Zeile, und schon gar nicht des Reimes wegen. Häufig findet sich ein spöttisches Staunen, ein verwunderter Unterton, ein widerborstiger, kleiner Sarkasmus. Kito Lorenc arbeitete als sein eigener Übersetzer. Er verglich sich mit einem Klavierspieler. Auch der sollte beide Hände gleich gut einsetzen können. Die Noten lernte er beim Studium der Sorabistik in Leipzig. Er arbeitete am Institut für sorbische Volksforschung und einige Jahre als Dramaturg am Staatlichen Ensemble für sorbische Volkskultur in Bautzen. Später führte das Theater dort seine Stücke auf, die „Wendische Schifffahrt“ zum Beispiel.

Immer wieder hat Lorenc sorbische Geschichte festgehalten, schon 1981 als Herausgeber des Sorbischen Lesebuchs im Leipziger Reclam Verlag. Dass die Literatur aus der Lausitz weit über die Lausitz hinaus bekannt wurde, ist auch sein Verdienst. Als Herausgeber und Übersetzer holte er seine Vorgänger in die Gegenwart, entzifferte in den Archiven die Müdigkeitsspuren der dichtenden Lehrer und Pfarrer und bewahrte so auch die Texte seines Großvaters Jakub Lorenc-Zaleski. 2005 brachte Kito Lorenc die erste umfassende Sammlung sorbischer Poesie heraus: „Das Meer. Die Insel. Das Schiff“.

Auf diesem Wasser bewegte sich Kito Lorenc so sicher wie in der Luft und mit dem Rücken zur Wand, zum Czorneboh. Weit sah er vom Berg in das Land. Seine spröde Hoffnung gab er in einem Gedicht einer Mistel mit. Sie sagt: „Es geht mir besser als nächstes Jahr.“