Merken

Wie barrierefrei ist der Lutherweg?

Von Waldheim aus wird die Qualität auf dem sächsischen Abschnitt beurteilt. Die lässt zu wünschen übrig.

Teilen
Folgen
NEU!
© Dietmar Thomas

Von Tina Soltysiak

Waldheim. Punkt „6142 Bank neu“, trägt Manuela Kolster in eine Liste ein. Sie ist am Dienstagvormittag gemeinsam mit ihrer Kollegin Romy Tippner auf dem Lutherweg zwischen Ziegra und Limmritz unterwegs. Punkt 6142 liegt ungefähr 500 Meter von der Bushaltestelle Ziegra-Ortseingang entfernt. Das Wäldchen ist schon in Sichtweite, rundherum sind Felder. „Wir empfehlen der Stadt Döbeln, an dieser Stelle eine Bank aufzustellen“, sagt Manuela Kolster. Sie und Romy Tippner sind die Qualitätsmanagerinnen für den Lutherweg in Sachsen, einer Initiative des Tourismusverbandes „Sächsisches Burgen- und Heideland“. Sie überprüfen die Strecke auf Barrierearmut. Berücksichtigt werden sollen dabei nicht nur die Ansprüche von Gehbehinderten, sondern auch von Menschen mit Beeinträchtigungen des Gehörs oder der Sehkraft sowie mit kognitiven Schwächen.

Die Strecke von der Haltestelle bis zum Waldrand ist breit, zwei Rollstühle können sich da bequem begegnen. Zunächst ist der Weg geschottert, dann geht er in Gras über. Eigentlich gute Bedingungen, um als barrierefrei zu gelten. „Weil auf dem Weg noch Autos fahren dürfen, ist der Abschnitt aber nicht als barrierefrei, sondern nur barrierearm einzustufen. Dabei ist an die Hörgeschädigten zu denken“, erklärt Romy Tippner.

Wie sich bei der Begehung schnell herausstellt: Als barrierefrei kann das Teilstück zwischen Ziegra und dem Viadukt in Limmritz nicht angepriesen werden. Hier führt der Weg durch den Wald. Entsprechend naturbelassen ist alles, entsprechend schmal ist die Trasse.

Zwei Frauen, 550 Kilometer Weg

Und das Gefälle spielt natürlich auch noch eine Rolle. Um dies zu ermitteln, hockt sich Romy Tippner hin, legt eine Wasserwaage mit digitaler Anzeige und Laser auf den Waldboden. Ihre Kollegin entfernt sich zehn Meter, sie dient als Referenzpunkt. 6,6 steht auf der Anzeige. Der erste Eindruck täuscht. Das Gefälle ist meist größer als erwartet. „Das haben wir anfangs auch oft falsch eingeschätzt“, sagt Manuela Kolster. Ein Gefälle von bis zu drei Prozent sei zumutbar, ein Kriterium für die Barrierefreiheit damit erfüllt, ergänzt Romy Tippner.

Seit Mai sind die beiden Frauen, die ihr Büro in Waldheim haben, regelmäßig auf dem Lutherweg unterwegs. Und zwar nicht nur in der Döbelner Region, sondern in ganz Sachsen. Ihr Ziel: Bis 2020 die gesamten 550 Kilometer abzulaufen und zu beurteilen: Wie ist der Zustand der Wege? Sind die breit genug? Gibt es gefährliche Stellen? Wo ist es angebracht, neue Rastplätze anzulegen oder Bänke aufzustellen? Ist die Beschilderung in Ordnung? Das sind nur einige Fragen, die sie beantworten müssen. „Wir dokumentieren all diese Dinge, also den Ist-Zustand, und melden unsere Empfehlungen dann an die Kommunen. Denn diese sind für die Verbesserung und den Aufbau der touristischen Infrastruktur und die Nachsorge der Beschilderung zuständig“, erklärt Manuela Kolster.

Doch mit den damit verbundenen Kosten stehen die Städte und Gemeinden nicht allein da: Das Leader-Gebiet Sachsenkreuz plus übernimmt 80 Prozent der Kosten für Projekte, die dem Abbau von Barrieren auf dem Lutherweg dienen. „Davon können aber auch Privatpersonen profitieren, die in ihrem Haus, das am Weg liegt, eine Ferienwohnung ausbauen möchten“, so die Qualitätsmanagerin.

Nach 1,2 Kilometern erreichen die beiden das Limmritzer Viadukt. Sofort fällt auf: Der Wegweiser für den Lutherweg ist nicht auf den ersten Blick erkennbar. Positiv bewerten sie den Rastplatz samt Spielgelegenheiten gegenüber des Anglerheims. Weniger schön: Eine Bank am Wegesrand ist gerade einmal 36 Zentimeter hoch, wie Kolster durch Anhalten des Zollstocks ermittelt. „Für Personen, die an Krücken gehen, ist das zu niedrig“, so ihr Urteil.

Zuwegung ab Niederstriegis ist top

Der Lutherweg führt über bereits bestehende Wander- und Radwege – und damit zum Großteil über Stock und Stein. Insgesamt verläuft der Weg durch 27 sächsische Kommunen und es gibt drei Zuwegungsstrecken. Eine davon führt von Nossen über Roßwein und Niederstriegis nach Döbeln. Die haben sich die beiden Frauen bereits angesehen. Romy Tippners Urteil: „Der Abschnitt Niederstriegis-Döbeln ist wirklich in einem sehr guten Zustand. Den können wir guten Gewissens als barrierefreien Weg empfehlen und bewerben.“

Reichlich neun Prozent aller Deutschen gelten, Stand Ende 2015, als schwerbehindert. Das entspricht 7,6 Millionen Menschen. 61 Prozent sind gehbehindert oder Rollstuhlfahrer, 3,9 Prozent hör- und 4,7 Prozent sehbehindert beziehungsweise blind und 12,1 Prozent haben eine kognitive Beeinträchtigung. „Barrierefreiheit ist für zehn Prozent der Bevölkerung unentbehrlich, für 40 Prozent hilfreich und für 100 Prozent komfortabel“, so Romy Tippner. Ist ein Weg für Rollstuhlfahrer geeignet, lassen sich Kinderwägen leichter schieben. Stehen in regelmäßigen Abständen Bänke, die Empfehlung liegt bei 500 Metern, kommt dies auch älteren Menschen oder Familien mit kleinen Kindern zugute. Daraus ergibt sich ein Potenzial für den Tourismus. „Denn Menschen mit Aktivitäts- und Mobilitätseinschränkungen und ältere Gäste verbringen ihren Urlaub bevorzugt in deutschen Reiseregionen“, so Romy Tippner.

Dennoch bleiben die Verantwortlichen realistisch: Da es die vielfältigsten Behinderungen gibt, ist Barrierefreiheit ein Ideal, dem sich die Realität nur annähern kann. „Vollständige Kompensation ist unmöglich, widerspräche zudem auch anderen Idealen, wie beispielsweise der Naturnähe“, ergänzt Manuela Kolster.

Kontakt zu Romy Tippner und Manuela Kolster: Niedermarkt 1 in Waldheim; Tel. 034327 96614, E-Mail an

[email protected]