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Westschlager? Aber nur 40 Prozent!

Vor 60 Jahren erließ das DDR-Ministerium für Kultur eine fragwürdige Anordnung für Tanzmusikprogramme.

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© Repro: Sammlung B. Dreßler

Von Bernd Dressler

Das Smaragd-Tonbandgerät war startklar, das Rema-Radio empfangsbereit, die Antenne, die „Rias Berlin“ ins Haus brachte, zuvor noch mal gecheckt worden: Pünktlich als die Sendung „Schlager der Woche“ begann, wurden zwischen Neugersdorf und Bernstadt, zwischen Kittlitz und Lückendorf die Aufnahmetasten gedrückt. Die Hits der 50er und 60er Jahre, die in der DDR nicht im Plattenladen zu haben waren, holten sich auf diese Weise viele Musikfans in ihre Wohnstuben.

Zudem musste sich niemand auf Konserven beschränken, um die beliebten Westschlager wie „Alles vorbei Tom Doley“, „Ganz Paris träumt von der Liebe“, „Bonjour Kathrin“ und, und, und zu hören. Live-Genuss boten die vielen kleinen und großen Tanzkapellen der Oberlausitz, die in den HO- oder Konsum-Gaststätten vor allem an den Wochenenden zum Tanz aufspielten. In einer Jugenderinnerung schwärmt die Taubenheimer Schriftstellerin Annelies Schulz („Das Kindheitshaus“) von der Kapelle Friedrich Kremz, „weil sie alle Schlager nachspielte, die ich zuvor in der Sendung ,Schlager der Woche‘ im Rias gehört hatte“.

Diese Dominanz der Westschlager war den DDR-Behörden bald ein Dorn im Auge. Im Februar 1958 trat eine Anordnung des Ministeriums für Kultur über die Programmgestaltung bei Unterhaltungs- und Tanzmusik in Kraft. Programme seien so zusammenzustellen, „dass mindestens 60 Prozent aller aufgeführten Werke von Komponisten geschaffen sind, die ihren Wohnsitz in der DDR, der Sowjetunion oder den Volksdemokratien haben“, hieß es. Damit war die berühmt-berüchtigte Titelformel 60:40 geboren, also 60 Prozent des Repertoires mussten Titel von DDR-Komponisten sein, 40 Prozent Titel aus dem Westen oder aus der Zeit vor 1949. Und Letztere mussten in der DDR verlegt sein. Das glich der Quadratur des Kreises.

Dennoch sollten Schulungen die Anordnung schmackhaft machen. So lud zum Beispiel die AWA (Anstalt zur Wahrung der Aufführungsrechte), quasi die DDR-Gema, im Sommer 1959 „Kapellenleiter, Berufsmusiker und Nebenberufsmusiker“ ins Klubhaus der Textilarbeiter Zittau ein. Die Devisenverpflichtungen für Urheberrechte westdeutscher Komponisten seien viel zu hoch, wurde dort argumentiert.

Trotzdem versuchten die Kapellen jener Zeit den Wünschen des Publikums gerecht zu werden und nicht, wie vorgegeben, „eine kulturerzieherische Funktion“ zu erfüllen. Sie riskierten damit freilich Spielsperren und andere Strafen, denn die Einhaltung besagter Anordnung des Kulturministeriums wurde nicht dem Selbstlauf überlassen.

Davon zeugt eine Mitteilung des Rates des Kreises Zittau im Sommer 1958, in der es heißt: „In den letzten Wochen häufen sich die Anzeigen, nach denen verschiedene Tanzkapellen gegen die Anordnung verstoßen haben und bis zu 67 Prozent Musikstücke westlicher Verlage während einer Tanzveranstaltung aufführten.“ Die staatliche Verwaltung habe deshalb schon Verwarnungen an einen Kapellenleiter und drei nebenberuflich tätige Musiker aussprechen und ein Ordnungsstrafverfahren gegen einen Kapellenleiter einleiten müssen. Betroffen war auch die 1951 in Olbersdorf gegründete Kapelle „Schlagersterne“, die nach einem Auftritt in Rammenau vom Rat des Kreises Bischofswerda mit 300 Mark Strafe und sechs Wochen Spielsperre belegt wurde. Dennoch ließen sich die Kapellen und Combos immer wieder etwas einfallen, um die Regelung zu unterlaufen. Schließlich wollten sie nicht vor halb leeren Sälen spielen.

Mancher, der das jetzt liest und in den letzten Jahren zum Beispiel bei einem Auftritt der beliebten „Grenzlandmusikanten“ ein Bill-Ramsy-Medley hörte, wird vielleicht schmunzeln. Vor einigen Jahrzehnten stand der 1962 komponierte Titel „Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett“ noch auf dem Index ...