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Weshalb die Schafe so traurig sind

Schäferin Kerstin Doppelstein hat in Großenhain ihr Handwerk gelernt. Doch jetzt muss sie sich mit vielen Problemen herumschlagen. Obwohl sogar BMW ein wichtiger Kunde für sie ist, kämpft sie ums Überleben.

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© Thomas Kretschel

Von Ines Mallek-Klein

Großenhain. Die beigefarbene Cordhose steckt fast bis zu den Knien in den Gummistiefeln. Der Wollpullover schützt vor den launenhaften Frühlingswinden, genauso wie die graue Mütze, die Kerstin Doppelstein energisch in den Nacken schiebt. „So ein verrücktes Wetter, da weiß man gar nicht, was man anziehen soll“, murmelt sie auf dem Weg zum Pferch.

Kerstin Doppelstein ist eine der wenigen Großstadtschäferinnen.
Kerstin Doppelstein ist eine der wenigen Großstadtschäferinnen. © Thomas Kretschel

Da haben es die Walliser Schwarzhalsziegen, die sich die Deichränder der Leipziger Elsteraue gemeinsam mit den Schafen teilen, viel besser. Ihr Fell schützt vor Wind und Wetter, aber auch vor Sonne. Das will längst nicht jeder Spaziergänger glauben. In den heißen Sommern 2016 und 2014 gab es doch tatsächlich aufmerksame Bürger, wie Kerstin Doppelstein sie nennt, die von der Großstadtschäferin verlangt haben, Sonnensegel für die Tiere zu spannen oder Schirme aufzustellen.

Die Tiere haben ihre Chefin längst kommen sehen. Sie hoffen auf eine kleine Leckerei und stellen sich hinter dem Weidezaun auf. Der misst mittlerweile 90 Zentimeter und steht unter Strom. Nicht, um Wölfe abzuwehren, sondern Jogger. Die nehmen offenbar gern den kürzesten Weg und laufen mitten durch die Herde. Das erzeugt nicht nur Stress bei den Tieren, es werden auch die Zäune beschädigt, und im schlimmsten Fall droht ein Rechtsstreit. Ein Jogger, der auf der Nachgeburt eines Schafes ausgerutscht war, hat versucht, Kerstin Doppelstein zu verklagen. Es sind solche Episoden, die die 38-Jährige schier verzweifeln lassen, am gesunden Menschenverstand und an der deutschen Bürokratie.

Kerstin Doppelstein ist in Berlin geboren und aufgewachsen. Sie hat Biologie studiert, kam durch eine Promotionsstelle an die Universität nach Leipzig, entschied sich dann eine mobile Hundeschule zu gründen. „Ich bin kein Mensch für den Schreibtisch“, sagt sie und lächelt, das Gesicht schon von der Frühlingssonne gut gebräunt.

Im Nebenerwerb kam dann die Landwirtschaft dazu. 28 Schafe weideten auf 1,5 Hektar. Mittlerweile sind es knapp 300 Muttertiere und 300 Hektar. „So groß sollte das Projekt nie werden, aber ich bin zum Wachstum verdammt“, sagt die Schäferin. Nach vier Jahren als Einzelkämpferin hat sie im August 2016 einen Mitarbeiter eingestellt, was den Druck zusätzlich erhöht. Gelernt hat sie den Job berufsbegleitend in Großenhain. Dort an der Landwirtschaftsschule am Remonteplatz gibt es die einzige Möglichkeit in ganz Sachsen, sich zu einer richtigen Schäferin ausbilden zu lassen.

Die Tage der Schäferin beginnen gegen sieben Uhr und enden oft weit nach 22 Uhr. Alle zwei Tage müssen die Pferche umgesetzt werden, damit die Tiere genügend Futter finden. Das Leipziger Liegenschaftsamt, die Talsperren-Verwaltung und private Firmen zahlen Kerstin Doppelstein Geld dafür, dass sie ökologische Ausgleichsflächen, Regenrückhaltebecken oder den ausgetrockneten Elsterstausee mit ihren Tieren pflegt. Fördermittel gibt es dagegen kaum und wenn, dann wäre ihre Beantragung viel zu zeitraubend und kompliziert.

Doch trotz der Einnahmen, der Betrieb hat in den vergangenen Jahren Verluste gemacht, auch, weil es immer wieder böse Überraschungen gab. Mal flutete die Elster die Deiche und vernichtete das Gras. Mal töteten Raubvögel 20 neugeborene Lämmer und im Herbst 2016 hatte ein übereifriger Landschaftspfleger die Ausgleichsfläche von BMW gemäht und damit das Futter für den halben Winter vernichtet. Der Autobauer ist einer der wichtigsten Kunden von Kerstin Doppelstein.

Das sind die Risiken, mit denen Landwirte leben müssen. Wären da nicht auch noch die vielen Auflagen der Behörden, die auch dann aktiv werden müssen, wenn Bürger sich beschweren. Und das tun sie im Falle der Großstadtschäferin offenbar oft und gern.

„Frau Doppelstein, ein aufmerksamer Bürger ist der Meinung, er kann spüren, dass es Ihren Schafen nicht gut geht. Sie gucken so traurig. Könnten Sie bitte irgendetwas tun, damit Ihre Schafe fröhlicher gucken?“ war einer der vielen Anrufe aus dem Veterinäramt der Stadt Leipzig, die Kerstin Doppelstein in den vergangenen Monaten erhalten hat. Monate zuvor war Doppelstein aufgefordert worden, für ihre Tiere einen Unterschlupf zu bauen, da Lämmer nur im Stall gehalten werden sollten. Doch die Ziegen und Schafe weideten gerade im Naturschutzgebiet, in dem eine solche Behausung gar nicht errichtet werden darf.

Auch der Wolf macht der Schäferin Sorgen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er auch die Elsteraue quert, ist die Unternehmerin überzeugt. Sie hat bis zu zwölf Herden. Um sie mit Hunden zu schützen, müsste sie 48 Schutzhunde anschaffen. Denn je Herde verlangt der Gesetzgeber zwei Hunde, die aber nach der Hundehalteverordnung nur zwölf Stunden am Tag wachen dürfen. „Das ist bei rund 5 000 Euro Anschaffungskosten pro Schutzhund schlicht nicht finanzierbar, hinzu kommen Ausgaben für Futter und Tierarzt“, rechnet Kerstin Doppelstein vor. Und dann wäre da noch die Zeitfrage. Obwohl sich die Schutzhunde im Pferch frei bewegen können, gilt er als Zwinger und Kerstin Doppelstein wäre verpflichtet, mit den Hunden zusätzlich Gassi zu gehen. Ein absoluter Irrsinn.

Eine Behördenmitarbeiterin riet Kerstin Doppelstein deshalb dazu, ihre Weidezäune mit Flatterband zu markieren. „Das kostet bei zwölf Herden unglaublich viel Zeit“, sagt die Schäferin. Sie hat in ihrer Meisterarbeit schon ausgerechnet, dass sie die Arbeit von eigentlich drei Beschäftigten erledigt. „Mehr ist nicht drin“, so die junge Frau.

Mit Lilly gibt es bisher nur einen Hütehund, der Kerstin Doppelstein von Pferch zu Pferch begleitet. Er sorgt bei der Umkopplung dafür, dass die gesamte Herde auf der neuen Weide ankommt, und wenn gerade nichts zu tun ist, döst er am liebsten auf der Ladefläche des quietschgelben VW-Transporters seines Frauchens.

Dass sich die Schafe die Weideflächen mit Ziegen teilen, ist übrigens kein Zufall. Letztere sind bei der Auswahl ihrer Gräser weit weniger wählerisch und damit werden die Flächen in kurzer Zeit schön sauber. Die Biorasenmäher sind in der Leipziger Deichlandschaft unverzichtbar, auch deshalb unterstützt die Stadt Kerstin Doppelstein – mit der Vermittlung von Weideland und den entsprechenden Bewirtschaftungsverträgen.

Dass die Dienstleistung der Schäferin mit 19 Prozent besteuert wird, sie für Tierfutter nur sieben angerechnet bekommt, sei noch so eine Ungerechtigkeit des Gesetzgebers. Aber man braucht Kerstin Doppelstein und ihre Tiere auf den Flächen zwischen Leipzig und Markkleeberg. Schafe haben den goldenen Tritt. Mit ihm verfestigen sie die Dämme, ohne sie zu zerstören. Gleichzeitig vertreiben sie durch die feinen Vibrationen Wühlmäuse und Maulwürfe, die die Dämme mit ihren Gängen instabil werden lassen würden. Es gibt bis dato keine Technik, die die Rasenmäher auf vier Hufen adäquat ersetzen könnte.

Kerstin Doppelstein liebt ihr Handwerk viel zu sehr, um aufzugeben. Obwohl, daran gedacht hat sie schon, meist nach den Anrufen vom Amt oder den wertvollen Hinweisen von aufmerksamen Bürgern.