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Wenn Werther kein Deutscher ist

Markus Gille hat Goethes Erfolgsstück in die Gegenwart geholt. Seine Darsteller sind Asylbewerber.

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© André Braun

Von Jens Hoyer

Döbeln. Kann ein Ausländer, der kaum Deutsch spricht, auf einer deutschen Theaterbühne stehen? Er kann. Zumindest in Markus Gilles Stück „Werther“. Bharat Lakum ist vor neun Monaten aus Indien nach Deutschland gekommen. Jetzt steht er im Theaterfoyer und steckt sich eine Pistole in den Mund. „Mit der Pistole ist die Aussprache perfekt“, meint Amir Shabaninikou, der vor ihm steht. Er kommt aus dem Iran. Jetzt ist er geschminkt und hat eine Perücke auf dem Kopf. Er ist Werther.

Gestern hat Gille sein Stück in Döbeln vorgestellt. Vor über einem Jahr begannen die Proben. Die Schauspieler hat er sich zusammengesucht. Amir Shabaninikou ist wegen seines christlichen Glaubens aus dem Iran geflohen. Er ist Opernsänger und hatte sich rechtzeitig nach Italien abgesetzt, als die Verhaftung seiner Untergrundgruppe drohte. Beim Mittelsächsischen Theater hat er schon im Opernchor auf der Seebühne ausgeholfen.

Bharat Lakum, von Beruf Schauspieler, floh aus Indien, weil seine Familie der Willkür eines korrupten Politikers ausgesetzt war, der sie von ihrem Land vertreiben wollte. „Bharat konnte gar kein Deutsch. Es war für ihn eine unheimliche Motivation, die Sprache zu lernen“, sagte Gille. „Es ist wichtig, dass Künstler spielen können, Wenn sie zwei, drei Jahre nichts machen können, dann ist das für sie eine Katastrophe.“

Gille integriert auch Leute in sein Stück, die kein Wort sprechen. Etwa eine streng gläubige Muslima, die Kopftuch trägt, keinem Mann die Hand reichen darf und die extrem zurückhaltend war. „Sie hat immer mehr Freude daran und ist eine beeindruckende Schauspielerin geworden. Das ist ein kleines Wunder“, sagte Gille.

Goethe in die Gegenwart geholt

Warum gerade Werther? – diese Frage stellt Gille selbst, um die Antwort zu geben. „Diese Menschen sollen etwas fürs Leben gewinnen, sie werden immer etwas mit Werther anfangen können. Ein kleiner Baustein deutscher Kultur gehört ihnen.“

Der Regisseur hat Goethe in die Jetztzeit geholt. Sein Werther ist ein Ausländer mit eben den Problemen, die Asylbewerber in Deutschland haben. Und dann begegnet ihm Charlotte und das Stück landet wieder eng bei der Vorlage, beim ewigen Spiel von Liebe und Enttäuschung. Charlotte ist verlobt und entscheidet sich für den anderen. Werther, der seine Vergangenheit hinter sich lassen wollte, scheitert an der Liebe und geht zurück in sein Land, zurück in den Krieg.

Auch auf die derzeitigen Probleme mit den Asylbewerbern in Deutschland wird eingegangen, wenn auch nicht tagesaktuell, sagt Gille. „Wir thematisieren die Ängste der Leute und bieten Lösungen an.“ Die beiden Darsteller haben bisher noch keine schlechten Erfahrungen in Deutschland gemacht. Amir Shabaninikou kann die Unsicherheiten vieler Deutscher mit den Fremden nachempfinden. „Diese Distanz gibt es auch im Iran. Ich gehe mit den Menschen respektvoll um und bekomme immer Respekt“, sagt er.

Am 16. Oktober hat Werther im Döbelner TiB Uraufführung. Dazu wird der bekannte syrische Lyriker Adel Karachouli nach Döbeln kommen, der aus Syrien vertrieben wurde und seit 1961 in Leipzig lebt. „Er wird Gedichte lesen“, sagte Gille. Nach der Premiere soll das Stück auch in Schulen gezeigt werden – Werther ist Unterrichtsstoff. Dann wird die Charlotte allerdings nicht von der Inderin Aparna Suchindranath dargestellt, sondern von der Deutschen Luisa Litzki.

Werther, Uraufführung am 16. Oktober um 19.30 Uhr im TiB, Eintritt frei. Danach gibt es eine Premierenfeier mit der Initiative „Willkommen in Döbeln“.