Merken

Wenn keine Kraft für Schule bleibt

Jessy ging wochenlang nicht zum Unterricht. Dem Projekt, das ihr half, droht jetzt das Aus.

Teilen
Folgen
© René Meinig

Von Julia Vollmer

Irgendwann blieb sie einfach liegen. Nichts, auch nicht die mahnenden Worte ihrer Mutter konnten Jessy zum Aufstehen bewegen. Sie zog die Bettdecke noch fester über den Kopf und blieb liegen. Schule – das schwebte wie ein riesiges, dunkles Ungetüm über ihr. Sie kam mit den Lehrern nicht zurecht, die Mitschüler mobbten sie. „Ich hatte irgendwann einfach keine Kraft und schon seit Langem keine Lust mehr, in den Unterricht zu gehen“, erzählt die heute 16-Jährige.

Angefangen hat das Schulschwänzen vor zwei Jahren, da war sie gerade 14 Jahre alt geworden. „Zuerst war ich nur ein paar Stunden nicht da, dann wurde es immer öfter“, so die Förderschülerin. Ihrer Mutter gaukelte sie wochenlang vor, dass sie weiterhin auf der Schulbank sitzt. Wie selbstverständlich zog sie sich früh an und ging los. Doch statt in die Schule zu fahren, „hing ich so draußen mit Freunden rum“, erinnert sie sich.

Mehr Schulverweigerer

Jessy ist damit nicht allein. Die Zahlen von Schulverweigerern in Dresden steigen. Während es im Jahr 2010 rund 965 Fälle gab, meldet das Schulverwaltungsamt in diesem Jahr bereits 1351 Schüler. Das Amt meldet die Fehlstunden, schreibt die Eltern an. Im schlimmsten Fall wird Schwänzen mit rund 1 200 Euro Bußgeld und einer Woche Jugendarrest bestraft.

Auch bei Jessy, die ihren Nachnamen lieber nicht in der Zeitung lesen will, flog der Schwindel auf – nachdem sie wochenlang gar nicht auftauchte bei ihren Lehrern. Diese verständigten die Polizei und die Schulbehörden. Diese verdonnerten Jessy zu Sozialstunden und zum Besuch des Projektes „2. Chance“ von der Kinder- und Jugendhilfe der Arbeiterwohlfahrt (AWO) und des Sächsischen Umschulungs- und Fortbildungswerk Dresden (SUFW). Es richtet sich an Schulverweigerer.

Genau dieses Projekt, das Jessy und vielen anderen Jugendlichen geholfen hat, wieder den Weg zurück in den Alltag zu finden, steht vor dem Aus. Die Stadt will es nur noch bis Ende des Jahres fördern. Einen Eilantrag, das Projekt doch erstmal noch bis Mitte 2018 zu fördern, lehnte Oberbürgermeister Dirk Hilbert am Donnerstag im Jugendhilfeausschuss ab. Erst am 11. Januar soll weiter beraten werden.

Im Rahmen der Hilfen der Erziehung bezahlt das Jugendamt für die 33 Fälle im laufenden Jahr rund 204 000 Euro. Seit 2010 kamen rund 927 000 Euro zusammen. Laut Martin Seidel, Geschäftsführer des SUFW und Ex-Sozialbürgermeister, belaufen sich die Kosten pro Träger pro Jahr auf rund 150 000 Euro. Die Stadt argumentiert, dass das Projekt zunehmend nicht mehr die Zielgruppe erreiche, die vorgesehen ist. „Während zu Beginn der 2. Chance noch 75  Prozent der Teilnehmer zwölf bis 15 Jahre alt waren, sind dies 2017 nur noch 63,5 Prozent“, sagt Anke Hoffmann vom Presseamt. Die Angebote sollten sich aber an jüngere Schüler richten, damit die Reintegration in die Regelschule nach erfolgreicher Projektteilnahme noch möglich ist. Doch die Stadt argumentiert, dass in nur zehn Prozent der Fälle im Zeitraum 2014 bis 2015 diese Reintegration klappte. „2017 waren dies zum Zeitpunkt der Auswertung lediglich 6,5 Prozent“, so Hoffmann.

Hier gehen die Ansichten von Stadt und Projektmitarbeitern auseinander. Während die Stadtverwaltung die Rückkehr in die normale Schule als Ziel angibt, sehen die Sozialpädagogen eher das Wiedererlernen des Alltags und die Lösung der Probleme der Kinder als vorrangiges Ziel. „Wer will schon in die Schule zurück, in der man gemobbt wurde“, fragt Projektmitarbeiter Uwe Lang. Ein Erfolg wäre ein Schulbesuch, es müsse aber nicht die Herkunftsschule sein. Es könnte auch die Integration in andere Schulformen, in eine Jugendwerkstatt oder eine Ausbildung, sein.

Alltag trainieren

„Unser Anliegen ist es, die Kinder wieder an einen normalen Tagesrhythmus zu gewöhnen, viele von ihnen sind monatelang nicht früh aufgestanden“, erzählt Sozialpädagogin Mandy Winkler, die bei „2. Chance“ arbeitet. Um 8 Uhr geht es los. Neben Fächern wie Deutsch, Mathematik und Englisch steht auch praktische Werkstattarbeit auf dem Stundenplan. Die Kinder werden von einem Sozialpädagogen und Psychologen begleitet. Denn bis auf Ausnahmen schwänzen die meisten die Schule nicht aus Desinteresse. Mobbing, Angststörungen, gesundheitliche oder Probleme in der Familie sind die häufigsten Ursachen. Das kennt auch Andreas Lachnit, Oberarzt der Psychosomatik-Station am Klinikum Neustadt. „Die Betroffenen fühlen sich oft chronisch erschöpft. So kommen schnell mal 20 bis 30 Fehltage pro Halbjahr zusammen.“ Der Leistungsdruck an den Schulen steige immer mehr und somit auch die Patientenzahlen. Aus der Schulverweigerung könne eine psychische Störung werden.

Bei Jessy waren es die Konflikte mit den Lehrern und irgendwann auch die Scham. Ihr war es peinlich, sich wieder auf die Schulbank zu setzen, nachdem sie so lange nicht dort war. Bei der „2. Chance“ hat sich Jessy wohlgefühlt, kam jeden Tag pünktlich. Ein erster Erfolg, so Sozialpädagogin Mandy Winkler. Jetzt will Jessy in der Jugendwerkstatt arbeiten. Kommentar