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„Wenn ich oben bin, fliege ich auch“

Einst wollte ein junger Osterzgebirgler die Skisprung-Welt erobern, doch die Karriere endet früh. Dann folgt die zweite Chance – mit WM-Titeln und Hollywood-Stars.

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© Lukas Fleißner

Von Jens Jahn

Hartmannsdorf. Ich werde sowieso Weltmeister“, tönte der siebenjährige Oliver Böhme, als er seine Sprungski schulterte und den Kleinbus vom Typ Barkas B 1000 bestieg. Es ging zu seinem ersten Wettkampf im Skispringen. Sein damaliger Trainer Christfried Rüger von der SG Röthenbach schüttelt noch heute den Kopf: „Der Oliver war immer ein ganz Verrückter. Angst kannte er keine. Und er hatte Talent zum Skispringen“. 32 Jahre später sendet Oliver Böhme aus dem Kärntner Skisprung-Mekka Villach per Handy eine SMS an Christfried Rüger: „Trainer, ich bin Weltmeister!“ Bei der Senioren-Weltmeisterschaft der Skispringer holte der Hartmannsdorfer gleich zwei Titel in seiner Altersklasse – auf der 60- und der 90-Meter-Schanze. Ehemalige Weltklassespringer wie Andreas Goldberger oder Martin Koch aus dem Gastgeberland zeigten ihr Können genauso wie Hobby-Skispringer aus den USA oder Ungarn.

Dabei trifft er auch die großen Stars wie Polens Doppel-Olympiasieger Kamil Stoch.
Dabei trifft er auch die großen Stars wie Polens Doppel-Olympiasieger Kamil Stoch. © Erhard Szakacs

Als Rüger daheim im Osterzgebirge diese Handy-Nachricht Böhmes liest, stehen dem heute 65-Jährigen Tränen in den Augen: „Wahnsinn, wie der Olli das geschafft hat. Mein allergrößter Respekt!“. Und Rügers Gedanken schweifen an die einstige Skisprung-Zeit in seiner Heimat zurück. Da gab es die Schanzen am Borberg, mit den kritischen Punkten von 15, 30 und 60 Metern. „Da stand sogar eine 90-Meter-Schanze, allerdings war das Profil so eigenartig, dass offiziell nie darauf gesprungen werden konnte“. Böhme war als Jugendlichem das Profil schnurzegal: „Ich bin heimlich darauf gesprungen. Ein Riesen-Luftstand, mich hat es förmlich herauskatapultiert“.

Rüger schüttelt den Kopf: „Wenn ich das gewusst hätte, wäre eine Standpauke angesagt gewesen. Eben ein Verrückter“. Später baute Rüger mit seinem Kumpel Volker Zerlick, Langlauf-Coach im Trainingszentrum, in Röthenbach eine kleine Mattenschanze. Es ging zu Wettkämpfen auf die zahlreichen Schanzen in der Umgebung. „Es war eine tolle Zeit. Auch wie wir durch die Eltern unterstützt wurden, das war einfach klasse“, erinnert sich Rüger gern zurück. Erfolge seiner Springer blieben nicht aus. Oliver Berger schaffte es bis in den C-Kader der gesamtdeutschen Nationalmannschaft 1990. Michael Hübler, Falk Menzer oder Jens Bräuer feierten überregionale Siege – und natürlich auch Oliver Böhme. Dieser sollte auf die Kinder- und Jugendsportschule nach Klingenthal gehen. Doch nach vier Wochen kam das Aus: „Ich hatte entsetzliches Heimweh, nahm ab und fühlte mich krank“. Das (vorläufige) Ende der Skispringer-Laufbahn Böhmes.

200 Meter sind das Ziel

Doch die Springerei ließ den Bauleiter bei der Deutschen Bahn nie richtig los. 2010 holte er die Sprunglatten wieder hervor und probierte sich bei kleineren Wettkämpfen. Dort traf er den ehemaligen Weltklassespringer Ulf Findeisen. Der zweifache Weltcupsieger überredete Böhme zum Neubeginn als „Freizeitspringer“. Aber Oliver Böhme wäre nicht der „verrückte Zeitgenosse“, wenn er sich nicht Ziele gesetzt hätte. „Als ich merkte, dass es doch noch so gut klappt mit dem Springen, wollte ich auf die größeren Schanzen“.

Nach mehreren Meistertiteln bei den Deutschen Seniorenmeisterschaften landete Böhme in der Gruppe der Vorspringer. Darin sind fähige und sichere Skispringer, die nicht mehr leistungssportlich aktiv sind, vereint. Sie stellen zu Großereignissen, wie Weltcup, Continentalcup oder Weltmeisterschaften, die Vorspringer. „Früher wurden dazu immer Nachwuchsspringer herangezogen. Doch sie sind ja selbst meist bei Wettkämpfen unterwegs. Also hat der Internationale Skiverband eine eigene Vorspringer-Gruppe gebildet. Das ist enorm wichtig für die Anlauflänge, Geschwindigkeit am Tisch und mehr“, erklärt Trainer Michael Schmidt.

Böhme entwickelte sich zu einem sehr sicheren Springer, Top-Events ließen nicht lange auf sich warten. Bei den Weltcupspringen in Klingenthal oder Willingen sowie bei der Vierschanzentournee war er dabei. Und dann flatterte eine Einladung zum Skifliegen in Oberstdorf auf den Tisch. „Da musste ich nicht lange überlegen“, sagte der mutige Fast-Vierziger. „Und wenn ich einmal oben bin, dann fliege ich auch. Runterlaufen gibt es nicht“. Böhme flog – und 150 Meter leuchteten auf der Anzeigetafel. „Das ist das Größte! Du hebst ab und siehst den zuschauergefüllten Hexenkessel unter dir. Mittlerweile gibt es Fantrupps für die Vorspringer und die jubeln dir zu“, sagt Böhme. Trainer Michael Schmidt sieht sogar noch Steigerungspotenzial. „Er hat einen Absprungfehler bei mir festgestellt. Der soll im nächsten Trainingslager abgestellt werden. Dann sind auch die 200 Meter drin“, sagt Böhme.

Auch dank seiner Liebe zu diesem Sport und seinem nahezu unbändigen Einsatz für die Vorspringer bekommt diese wichtige Gilde zunehmend Aufmerksamkeit. Mit Hilfe von AVIA-TV, einem Skisprung-Talk mit den ehemaligen Eurosport-Moderatoren Gerd Siegmund und Dirk Thiele, bekam die Vorspringer-Gruppe einheitliche Sprunganzüge und mediales Interesse. Böhme initiierte zudem die Marke „Volllast“ und war Darsteller bei einem Film über den englischen Springer Eddie „the Eagle“ Edwards mit Hollywood-Star Hugh Jackman („X-Men“) in der Hauptrolle.

Böhmes elfjährige Tochter Lia stellte jüngst in Dittersbach einen neuen Schanzenrekord auf. Dort finden seit Jahren die einzigen Wettkämpfe der hiesigen Region statt. Menschen wie Böhme, aber auch seine Mitstreiter Henrik Vogel, Tobias Schröter oder Maik Fraulob versprühen derweil osterzgebirgisches Skisprungflair auf den Schanzen der Welt. Im Herbst geht es zur ersten Skiflug-Mattenschanze in Ironwood (USA). Dann folgt sicher auch eine Einladung zu den Olympischen Spielen nach Südkorea. Bis dahin steht wohl schon eine 200 auf der Bestweitenliste Oliver Böhmes. „Eben ein Verrückter“, schüttelt Rüger den Kopf und wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel.