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Wenn es die EU nicht gäbe …

… müsste man sie erfinden – und hier lesen Sie warum. Eine Betrachtung.

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© Filip Singer/epa/rex/Shutterstock

Von Detlef Drewes, SZ-Korrespondent in Brüssel

Diese Demonstranten tun, was man am wenigsten erwartet hätte: Sie verteidigen Europa. Schon seit Wochen treffen sich mal einige Hundert oder auch etliche Tausend Bürger in 68 deutschen Städten sowie in den Metropolen von zwölf weiteren EU-Staaten, um ihre Forderung durchzusetzen: „Europa darf nicht scheitern.“ So lautet das Motto der Bewegung „Pulse of Europe“. Während im Vorfeld der französischen Präsidentschaftswahl die Unkenrufe von einem nahen Ende der EU vernehmlicher werden, versuchen diese Wähler das Gegenteil zu proklamieren: „Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit sind unantastbar“, „Die europäischen Grundfreiheiten sind unverhandelbar“ oder „Vielfalt und Gemeinsames“ lauten drei ihrer insgesamt zehn Thesen. Politikwissenschaftler sprechen von einer „neuen transnationalen sozialen Bewegung“. Während die Populisten das Lied vom Untergang der Union singen, stimmen die Befürworter ihre eigene Hymne vom Überleben der EU an.

Dabei ist die Liste der Krisen, die die Europäische Union nicht nur zum Stillstand, sondern zum Rückschritt gebracht haben, ziemlich lang. Der Brexit gilt als Wendemarke zu einer Zukunft, von der die Widersacher und Gegner hoffen, diese Gemeinschaft würde endlich abgewickelt, während diejenigen mit der blauen Fahne und dem Sternenkranz darauf von der Wiederauferstehung träumen. „Europäische Erfolge waren fast immer das Werk vorausschauender Pioniere“, hatte der EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker gesagt, als er vor einigen Wochen ein Paket mit fünf Szenarien über das Morgen der Union präsentierte. Eine Abwicklung kommt darin nicht vor. Ebenso wenig wie in den Beschlüssen des Europäischen Parlamentes zum gleichen Thema.

Die Diskussion ist eröffnet, bis 2018 wollen die Staats- und Regierungschefs sagen, wie sie sich eine auf 27 Mitglieder geschrumpfte EU vorstellen. Doch gegen die steril-technischen Alternativen vom bloßen Binnenmarkt bis hin zum Europa mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten halten immer mehr Bürger das Bild einer erlebten Gemeinschaft hoch. Schüler, Auszubildende und Studenten gehören dazu, die vielleicht nicht auf die Straße gehen, aber am Erasmus-Programm teilnehmen, eine Zeit lang in einem anderen Land lernen und „mit beeindruckenden Erlebnissen und Freundschaften zu Gleichaltrigen anderer Länder“ zurückkehren, wie es Anette Beilkow bei einer Veranstaltung in Brüssel vor einigen Wochen beschrieben hat. 4,7 Millionen junger Menschen nahmen an dem Projekt seit seiner Gründung vor 30 Jahren teil. Schon 2020 sollen es elf Millionen sein. Für sie ist ein Leben in und mit Europa unverzichtbar, nein: undenkbar.

Tatsächlich leidet die Union wohl nicht zuletzt an ihrer emotionsarmen Seelenlosigkeit: In den Zeiten nach dem Ende des Krieges reichte der Friedensgedanke, um die Völker zusammenzuführen. Wer heute 70 Jahre alt ist, kennt keinen Krieg mehr zwischen den Mitgliedern dieser EU, die sich zuvor jahrhundertelang gegenseitig bekämpften. Oradour, die Ardennen, Buchenwald sind geschichtsträchtige Orte, die mahnen, aber für viele junge Europäer gefühlt so nahe sind wie das Forum Romanum in der italienischen Hauptstadt. „Wir machen wieder Lust auf Europa“, sagte die Initiatorin von „Pulse of Europa“, Stephanie Hartung. Genau das ist es.

Dem Miteinander der Staaten eilt der Ruf voraus, zu einer verkrusteten Bürokratie verkommen zu sein, deren vorrangiges Augenmerk die Harmonisierung von Staubsaugern und Wasserkochern ist. Dass solche technischen Vorgaben nicht nur im Sinne der Hersteller, sondern auch ein Beitrag zum gemeinsamen Klimaschutz sind, geht im Alltag derer unter, die ohnehin wenig Gutes an der Gemeinschaft lassen. Sie übersehen, dass die Sünden, die man Brüssel vorwirft, in Wirklichkeit Ergebnisse einer fehlerhaften Politik der Mitgliedstaaten waren. Die grassierende Arbeitslosigkeit unter jungen Menschen vor allem im Süden Europas eignet sich wahrlich nicht für einen Vorwurf Richtung Europa. Sie bleibt ein Ergebnis überzogener Schuldenmacherei und ausgebliebener staatlicher Reformen, die die Regierungen vor Ort zu verantworten haben. Die Union schafft keine Probleme, sie benennt sie und bemüht sich, auf die politische Führungselite einzuwirken.

Was dabei herauskommt, kann man seit einigen Jahren in jedem April an den Reaktionen der Staatenlenker ablesen. Dann verschickt die Kommission nämlich ihre Ermahnungen zur Haushaltsüberwachung und listet Schwachpunkte auf. Der französische Präsident François Hollande pflegte dies in der Vergangenheit mit nicht zitierfähigen Schimpftiraden Richtung EU zu kommentieren.

„Die EU von morgen wird anders“, hieß es im Europaparlament vor wenigen Wochen. Es findet eine Wiederentdeckung der Nationalstaaten ohne Protektionismus statt. Wer sich mit seinen Nachbarn auf immer mehr politischen Feldern zusammenschließen will, kann das tun – wie es beim Euro längst funktioniert. Wer langsam mitwachsen will, bleibt eben außen vor, muss aber damit leben, dass der europäische Zug schneller fährt. Die Verantwortung der Regierenden, aber eben auch derer, die ständig daran erinnern, wer das Volk sei, wird größer. Brüssel als Sündenbock fällt aus – eine interessante Variante, von der ein Abgeordneter des EU-Parlaments sagte: „Dieses Modell hat viele Vorteile. Bremser können die EU nicht mehr aufhalten, aber sie werden auch selbst verantwortlich sein, wenn sie zurückbleiben.“

Hinzu kommt eine EU, die über ihre Strukturen nachdenken muss. Dass die Türkei auf Dauer kein Vollmitglied wird, steht außer Frage. Für Serbien, Montenegro, Bosnien-Herzegowina, Albanien und die frühere jugoslawische Republik Mazedonien aber wird sehr wohl noch Platz sein. Die Ukraine oder Weißrussland werden angedockt – als Freunde, als privilegierte Partner, als Gäste. Wie auch Großbritannien. Der Weg der Kommission zu einer Regierungsbehörde ist vorerst zu Ende. Das Modell der Vereinigten Staaten von Europa steht nicht zur Debatte – es widerspricht nach Auffassung vieler zu deutlich dem europäischen Grundgedanken der „Einheit in Vielfalt“, also eines Bundes autonomer Länder. Dennoch wird die EU einen Außen- und Finanzminister bekommen, um stärker mit einer Stimme zu sprechen und Verantwortung in der Welt wahrzunehmen.

Erfolgsliste gegen Krisengerede

In Brüssel hält man den Krisen, die oft zitiert werden, gerne die Aufstellung der Erfolge entgegen, von denen kaum jemand spricht. Wenn am 15. Juni dieses Jahres die Roaming-Zuschläge für mobiles Telefonieren und Surfen im EU-Ausland wegfallen, kann eigentlich jeder wissen, dass dies ohne EU undenkbar wäre. Der Kampf der europäischen Kartellwächter gegen Monopole und Machtmissbrauch deckt immer wieder eklatante Fälle von Preisabsprachen mit Schäden in Milliardenhöhe zulasten der Verbraucher auf. Die Zahl der Unfalltoten auf den Straßen der Gemeinschaft geht seit Jahren nicht zuletzt deshalb zurück, weil Brüssel unentwegt an den technischen Sicherheitsstandards für Autos geschraubt hat. Die medizinische Forschung beispielsweise für Patienten mit seltenen Krankheiten wurde durch Initiativen der EU forciert.

Zum 60. Geburtstag der Union am 25. März veröffentlichte die EU-Kommission eine 60 Punkte umfassende Zusammenstellung des Erreichten – vieles fehlt. „Die EU ist der größte historische Erfolg, den es auf diesem Kontinent gegeben hat“, pflegte der frühere Parlamentspräsident und jetzige Spitzenkandidat der SPD für die Bundestagswahl, Martin Schulz, das auszudrücken. Er hat recht. Das Risiko, diese EU trotz aller Defizite einzustampfen und Europa erneut den Protektionisten zu überlassen, sollten wir nicht eingehen.

Im Gegenteil: Fehler und Probleme sind ein Grund, alles besser zu machen, aber sie sind kein Anlass, das größte Friedensprojekt Europas aufzugeben.