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Wenn der Weißstorch zum Stiefstorch wird

Die Brutpaare in Kraußnitz und Liega haben in diesem Jahr Adoptivkinder aufgezogen.

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© Lutz Runge

Von Manfred Müller

Kraußnitz/Liega. Manchmal ist es nicht der Mensch, sondern die Natur, die für tragische Geschichten sorgt. So fegte im Juni ein kleiner Tornado über die Dörfer im Osten des Landkreises und verschonte auch den Liegaer Storchenhorst nicht. „Das Nest wurde zusammengeklappt wie ein Plinsen“, sagt Lutz Runge vom Nabu-Regionalverband „Großenhainer Pflege“. „Die drei Jungen waren regelrecht verschüttet.“ Nur eins davon konnten die Naturschützer in überlebensfähigem Zustand bergen. Es wurde in den Riesaer Heimattiergarten gebracht, gesund gepflegt und zunächst von den dort lebenden zahmen Störchen versorgt. Später setzten es die Naturschützer auf den Kraußnitzer Horst, wo es fürsorgliche Stiefeltern fand. Auch das Liegaer Storchenpaar bekam, nachdem das Nest wieder hergerichtet war, zwei Adoptivkinder. Wie es derzeit aussieht, wird die Geschichte für alle drei Jungstörche gut ausgehen.

Trotz oder gerade wegen des nassen Wetters erwarten die Naturschützer in der Elbe-Röder-Region ein gutes Storchenjahr. „Jungstörche werden in den ersten Wochen vor allem mit Regenwürmern gefüttert“, erklärt Lutz Runge. „Die kommen nach ausgiebigen Niederschlägen an die Oberfläche und geben eine leichte Beute ab.“ Ist der Boden dagegen zu trocken, finden die Eltern nicht genügend Nahrung. Da kann es schon passieren, dass ein Storchenkind verkümmert und am Ende aus dem Nest geworfen wird. Das war in diesem Jahr kaum der Fall, weshalb zu erwarten ist, dass die meisten der geschlüpften Küken auch den Zug nach dem Süden antreten werden.

Obwohl die aktuelle Nachwuchs-Prognose über dem Schnitt der vergangenen Jahre liegt, betrachten Storchenschützer die längerfristige Entwicklung mit Sorge. Noch in den 1990er Jahren überschritt die Zahl der ausgeflogenen Jungstörche im Altkreis Großenhain die 100er Marke. Heute sind es 50 bis 60. Ursache für den Rückgang ist das sinkende Nahrungsangebot, das die intensive Bewirtschaftung der Agrarflächen mit sich bringt. Denn jeder zusätzliche Schnabel stellt die Storcheneltern vor große Herausforderungen. In den ersten Wochen müssen sie vor allem Regenwürmer, Schnecken und Insekten auf den Horst bringen. Später werden die Beutetiere größer – bis hin zu Schermaus und Maulwurf. Die finden die Störche aber nur auf offenen Flächen, vor allem auf Weideland. Ist der Bewuchs auf den Grünflächen zu hoch, wird die Jagd erschwert und viele Jungtiere verhungern. Intensiv genutzte Äcker geben für die Ernährung der Störche nur kurzzeitig etwas her, Mais- und Sonnenblumenkulturen gar nichts.

Am günstigsten für die Tiere wäre die stufenweise Nutzung von Agrarflächen, weil es da bei jedem Schnitt ein ordentliches Nahrungsangebot gibt. Aber das macht heute fast kein Landwirt mehr. Hinzu kommen Düngemittel und Pflanzengifte, die dazu führen, dass sich giftige Stoffe in den Beutetieren anreichern und die Jungstörche krank und weniger widerstandsfähig machen.

Auch die Nistbedingungen müssen stimmen. Deshalb erklettern die Storchenschützer im Herbst oder zum Ende des Winters die Brutplätze, von denen die meisten künstlich angelegt wurden, um sie zu reinigen. Hat sich im Storchennest zu viel Moos und Gras angesammelt, kann das Regenwasser nicht mehr ablaufen, und die Jungstörche sterben oft an Erkältungskrankheiten. Auch Bindfäden und Plastikmüll, den die Eltern im Vorjahr angeschleppt haben, müssen beräumt werden; daran kann der Nachwuchs ersticken.

Im Gebiet des Altkreises Großenhain gibt es insgesamt 60 Horststandorte, von denen aber nur 40 regelmäßig bebrütet werden. Zwar werden alle von den Naturschützern in Zusammenarbeit mit den Grundstücksbesitzern erhalten und regelmäßig gepflegt. Aber manche der traditionellen Horste im Osten der Großenhainer Pflege sind trotz guter Instandhaltung schon seit vielen Jahren verwaist, so in Würschnitz, Schönfeld und Böhla bei Ortrand. „Wir beobachten seit Langem, dass sich die Störche zum Brüten in Gebiete mit extensivem Feuchtgrünland in der Nähe von Elbe und Röder zurückziehen“, warnt Lutz Runge. „Wo intensive Landwirtschaft betrieben wird, öffnet sich die Schere zwischen der Anzahl der geschlüpften und ausgeflogenen Jungstörche immer weiter.“