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Wenn Ärzte hungern

In den Krankenhäusern in Polen streiken vor allem junge Ärzte schon seit Wochen. Sie arbeiten viel länger als üblich – für ein eher symbolisches Gehalt.

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© getty images/Anna Ferensowicz

Von Agnieszka Hreczuk

Dass er so nicht weiterarbeiten kann, begreift Michal Bulsa auf einer Heimfahrt aus dem Krankenhaus. Der 29-jährige Assistenzarzt hat 24 Stunden durchgearbeitet, wieder einmal, jetzt hat er endlich Wochenende, die Straße ist leer. Zu seinem Glück. Vor Erschöpfung fallen Bulsa am Lenkrad die Augen zu, als er wieder zu sich kommt, fährt er auf der Gegenfahrbahn direkt auf die Leitplanke zu. „Wäre ich nur wenige Sekunden später aufgewacht, wäre ich mit dem Auto 20 Meter in die Tiefe gefallen“, sagt er heute. In jenem Augenblick beschloss Bulsa, sich dem Protest seiner Kollegen anzuschließen und in den Streik zu treten.

Das Protestcamp der Assistenzärzte im Universitäts-Kinderkrankenhaus in Warschau. Die Assistenzärzte setzen sich mit ihrem Hungerstreik gegen schlechte Arbeitsbedingungen zur Wehr.
Das Protestcamp der Assistenzärzte im Universitäts-Kinderkrankenhaus in Warschau. Die Assistenzärzte setzen sich mit ihrem Hungerstreik gegen schlechte Arbeitsbedingungen zur Wehr. © dpa

Überall in Polen haben Mediziner in diesem Herbst die Arbeit niedergelegt. An seiner Klinik in Stettin übernimmt Michal Bulsa die Koordinierung der Proteste. Die Aktion ist ein Hilferuf, denn das gesamte Gesundheitssystem Polens - so sehen es die Streikenden – droht bald zusammenzubrechen. In ein bis zwei Jahren, so die Prognose, wird Geld an allen Ecken fehlen. Wohl jeder Pole, der im Land je auf ärztliche Hilfe angewiesen war, kann schon jetzt Beispiele für den Notstand nennen. Die alte Dame, die für Angehörige auf der Intensivstation selbst Windeln kaufen musste, weil das Krankenhaus sie nicht stellte. Das unglaublich dürftige Essen – pro Patient und Tag geben polnische Krankenhäuser nur fünf bis zehn Zloty aus, das sind nicht mehr als ein bis zwei Euro. Viele sind deswegen darauf angewiesen, dass ihre Familie sie mit Essen versorgt.

Und Ärzte wie Michal Bulsa müssen bis zur Erschöpfung arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Der angehende Facharzt für Frauenheilkunde absolviert derzeit das dritte Jahr seiner Spezialisierung. Seine Tage und Wochen sind völlig verplant: Montags arbeitet er von 8 bis 16 Uhr im Krankenhaus in Stettin, anschließend übernimmt er mit einem zusätzlichen Arbeitsvertrag den Notdienst im selben Krankenhaus. Nach der Nachtschicht tritt er um 8 Uhr am Dienstagmorgen wieder zu seinem normalen Dienst an. Danach, ab 16 Uhr, unterrichtet er im Rahmen seiner Doktorarbeit – für die er ein Stipendium erhält – an der Universität. Anschließend kann er zu Hause übernachten, bevor dann wieder seine Arbeit und ein Notdienst in einem anderen Krankenhaus, mit einem weiteren Arbeitsvertrag, beginnt. So kommt Michal Bulsa auf 6 000 Zloty im Monat, umgerechnet knapp 1 500 Euro. Das Gehalt für seine Arbeit als Assistenzarzt allein beträgt 2 200 Zloty netto, also etwas mehr als 520 Euro.

Die bisweilen 60 bis 80 Stunden, die er am Stück arbeitet, unterbrochen von Nickerchen auf einer Couch im Ärztezimmer, sind nicht ungewöhnlich für junge polnische Ärzte. Laut einem Report der staatlichen Arbeitsinspektion aus dem Juli dieses Jahres arbeiten manche Assistenzärzte sogar bis zu 100 Stunden ohne nennenswerte Pause. Es ist schwer vorstellbar, dass dies ohne Medikamente oder Drogen durchgehalten werden kann. Tatsächlich tauschen sich in Internetforen Ärzte anonym über solche Mittel aus.

Viele Mediziner wollen die Missstände nun nicht mehr hinnehmen. Michal Bulsas Krankenhaus hat sich dem Streik am 17.  Oktober angeschlossen. Andere Kliniken in Krakau, Lodz, Danzig und Breslau folgten. Begonnen hatten die Proteste im Kinderkrankenhaus von Warschau, wo sich Ärzte aus ganz Polen versammelten und in Hungerstreik traten.

Im Erdgeschoss der Warschauer Kinderklinik sitzt Mikolaj Sinica auf einer Matratze. Sein junges Gesicht ist so blass, dass sein schwarzer Bart noch schwärzer wirkt – und die veilchenfarbenen Augenringe noch tiefer und dunkler.

Er versuche nicht zu denken, sagt Sinica. „Sitzen, schlafen, reden, bloß nicht denken.“ Weil ihm sonst nur ein Gedanke in den Kopf kommt, den er nicht mehr loswird: Pizza. „Eine große.“ Er lächelt verlegen. Bis zu diesem Zeitpunkt hat er sechs Tage lang nichts gegessen. Gar nichts.

Sinica wird noch drei Tage weiterhungern, insgesamt harren die streikenden Ärzte einen ganzen Monat im Klinikum aus, erst im Keller, später im Erdgeschoss. Ende Oktober entschließen sie sich dazu, ihren Protest auf andere Art fortzusetzen: 48 Stunden wollen sie pro Woche noch arbeiten, keine Stunde mehr. Das ist in Polen die offiziell für Ärzte bestimmte Wochenarbeitszeit. Nur dass sich gewöhnlich niemand an sie hält. Alle arbeiten mehr, so funktioniert das System. Die Streikenden wollen, dass deutlich wird: So funktioniert es eben nicht.

„Wir kämpfen, weil es nicht so weitergehen kann“, wiederholt Mikolaj Sinica wie ein Mantra. Er ist 27 und voller Idealismus. Seine Eltern sind Ärzte, auch für ihn kam nie ein anderer Beruf infrage. Er will Menschen helfen. Was er aber täglich sehe, seien übermüdete ältere Kollegen. Ärzte, Krankenschwestern, Physiotherapeuten, die nicht mal mehr versuchen, nett zu sein. „Die Patienten müssen weggeschickt werden, weil sie niemand operieren kann oder weil ihnen für die Behandlung das Geld fehlt“, sagt Sinica. „Wir kämpfen nicht nur für uns, sondern für die Gesundheit aller Polen!“

Seine Eltern unterstützen den Protest. Auch sie meinen, dass sich etwas ändern muss im Land. Ohnehin zeigen sich viele ältere Ärzte solidarisch mit den jungen Streikenden. Die Ärztekammer rief dazu auf, diese Solidarität nicht nur zu äußern, sondern aktiv mitzuprotestieren.

Mindestens 6,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts eines Landes sollten für dessen Gesundheitssystem ausgegeben werden, so empfiehlt es die Weltgesundheitsorganisation. In Deutschland sind es mehr als elf, in Polen 4,5 Prozent. Die Folgen: lange Wartezeiten bei Spezialisten, zu wenig Personal, veraltete Behandlungsmethoden und Krankenhäuser, die kaum oder gar nicht renoviert werden. Angeblich müssen auch junge Assistenzärzte Teile ihrer Ausrüstung, vor allem aber Weiterbildungskurse, selbst bezahlen. Eine zweitägige Fortbildung zum Thema Ultraschall kostet etwa 2 000 Zloty, knapp 500 Euro – und somit beinahe genauso viel wie der monatliche Verdienst eines Assistenzarztes.

Der Streik solle sich nicht speziell gegen die Regierung der nationalkonservativen PiS-Partei richten, sondern gegen die seit Jahren vernachlässigte Gesundheitspolitik. In den vergangenen zehn Jahren hat das medizinische Personal schon mehrfach die Arbeit niedergelegt, auch zu Zeiten der Vorgängerregierung. Damals sprach sich der Vorsitzende des Ärzterates dafür aus, jungen Ärzten ein Gehalt in Höhe von drei Durchschnittslöhnen zu zahlen. Eine PiS-Abgeordnete warf der Gesundheitsministerin vor, dass sie mit den Streikenden nicht reden wolle. Heute ist der damalige Vorsitzende des Ärzterates Polens Gesundheitsminister, und die damalige PiS-Abgeordnete – Beata Szydlo – ist Ministerpräsidentin. Beide haben nicht vor, den Forderungen der Ärzte nachzugeben.

Stattdessen schlug die Regierung kürzlich vor, die Ausgaben für das Gesundheitssystem auf immerhin sechs Prozent aufzustocken. Aber erst 2025.

Jahrelang gab Polen Geld lieber für Verteidigung und Aufrüstung aus, am Gesundheitssystem wurde gespart. Das habe funktioniert, solange die polnische Gesellschaft relativ jung gewesen sei, sagt Lesniewski. Momentan ändert sich das. „Auch Polen werden älter und ein über 65-Jähriger kostet drei- bis viermal so viel wie ein junger Mensch.“ Auch die Ärzte altern, und Nachfolger fehlen. Jeder dritte polnische Chirurg oder Kinderarzt ist älter als 60. Auf 1 000 Menschen kommen in Polen 2,3 Ärzte – weniger als in jedem anderen EU-Land. In Deutschland sind es 4,1, in den Ländern der EU durchschnittlich 3,5.

Nach sechs Jahren Studium und einem Jahr Arztpraktikum verdient Mikolaj Sinica 1 400 Zloty netto, umgerechnet knapp 350 Euro. Er hat Glück mit seinen gut verdienenden Eltern. Sie bezahlen sein Zimmer in einer WG. Viele seiner Kollegen jobben nebenbei in Bars und Kneipen oder als Pizzalieferanten.

Anstatt mehrerer Krankenkassen, unter denen man wählen kann wie in Deutschland, gibt es in Polen nur eine, den Nationalen Gesundheitsfonds. Er ist dem Gesundheitsministerium unterstellt. Alle Arbeitnehmer sind darin versichert. Der Fonds schließt mit niedergelassenen Ärzten und Krankenhäusern Verträge, die bestimmen, wie viel Geld für bestimmte Behandlungen bezahlt wird. „Es reicht dann zum Beispiel für 200 Augen-Operationen“, erklärt Bartlomiej Lesniewski. „Mehr wird das Krankenhaus nicht machen, auch wenn es die Kapazität dafür hätte und genug Patienten. Der Fonds würde es nicht bezahlen.“ Wenn das Kontingent ausgeschöpft ist, entstehen für Patienten lange Wartezeiten. Ein Mann aus Pommern soll 1 842 Tage auf eine Operation und ein künstliches Gelenk gewartet haben.

Auch im Kinderkrankhaus in Warschau, wo die Streikenden hungerten, werden beispielsweise die modernen Geräte der Neugeborenenstation nicht genutzt. Der Gesundheitsfonds hat mit dem Haus keinen Vertrag abgeschlossen, die Klinik würde also für die Verwendung der Gerätschaften kein Geld bekommen.

In Polen beträgt der Beitrag zur Krankenversicherung neun Prozent. Es ist einer der niedrigsten in den EU-Ländern. Keine der bisherigen Regierungen traute sich, über eine nötige Erhöhung auch nur zu sprechen. Angeblich wäre nur eine Minderheit der Polen bereit, mehr zu bezahlen. Dabei unterstützen laut Umfragen die meisten den Streik der Ärzte und nehmen die Probleme im Gesundheitssystem wahr.

Die öffentlich-rechtlichen Medien aber – seit fast zwei Jahren unter der Kontrolle der Regierung – hetzen gegen die Ärzte. Regelmäßig werden Straßenumfragen gesendet: „Haben Sie schon einmal einen armen Arzt gesehen?“ Kein einziger Passant antwortet mit Ja. Vor zwei Wochen wurde ein Bericht gesendet, in dem der Reporter Facebook-Profile der Streikenden durchsuchte und dort Fotos von „Butterbrot mit Kaviar“ oder „exotischen Urlauben“ fand.

Der exklusive Kaviar entpuppte sich später als Paste aus der Tube, die exotischen Urlaubsorte im Irak und in Tansania als humanitäre Einsätze einer jungen Ärztin. Vor sechs Monaten hat derselbe Sender eine Irak-Reportage gezeigt, mit derselben Ärztin als Heldin. Sie behandelte dort im Krankenhaus Flüchtlinge aus Mossul.

Es ist naheliegend, dass angesichts all dessen immer mehr junge Ärzte ihre Zukunft in der Fremde sehen. Zehn Prozent der Medizinstudenten aus Michal Bulsas Jahrgang haben das Land verlassen. In Stettin ist Deutschland das Auswanderungsziel Nummer eins, doch die jungen Ärzte gehen auch nach Schweden oder England. Skandinavische Krankenhäuser und Gemeinden locken Mediziner sogar mit kostenlosen Sprachkursen und Begrüßungsgeld. Die polnische Ärztekammer schätzt, dass etwa 30 000 polnische Ärzte mittlerweile im Ausland arbeiten.

Michal Bulsa will nicht auswandern. Er fühle sich als Patriot, sagt er, egal ob das pathetisch klingt. „Unsere Familien und Freunde hier in Polen brauchen auch Ärzte, die sie behandeln“, sagt er.