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Waschen bis aufs Blut

Immer mehr Menschen leiden an Zwangserkrankungen. Hilfe gibt es im Krankenhaus Großschweidnitz und in einer Löbauer Selbsthilfegruppe, die kreisweit einmalig ist.

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© nikolaischmidt.de

Von Constanze Junghanß

Birgit B.* krempelt den Pullover nach oben. Ihre Arme sind voller Narben. Immer wieder setzt sie eine Schere an und ritzt sich. Der Zwang, sich zu verletzen, ist groß bei der 52-Jährigen. Die Haut ihrer Hände ist durchgescheuert. Das kommt vom vielen Waschen. Birgit leidet neben dem Borderline-Syndrom zusätzlich unter einem Waschzwang. Vor allem dann, wenn es ihr seelisch schlecht geht, überfluten sie die Zwänge wie ein Tsunami, dem sie nicht mehr ausweichen kann. Eine furchtbare Situation, wie sie erzählt.

Zum achten Mal steigt Liane A.* die Treppen im Löbauer Haus nach oben. Die Frage, ob die Wohnungstür wirklich geschlossen ist, geht ihr wieder und wieder durch den Kopf. Die 57-Jährige dreht den Schlüssel: War der Lichtschalter aus, die Kaffeemaschine abgeschaltet? Eigentlich alles in Ordnung. Das weiß sie ganz genau. Liane schließt die Tür. Beinahe ist sie unten. Da schießt ihr der Gedanke ein: „Ist die Tür tatsächlich geschlossen?“ Und sie läuft noch mal los.

„Wer mich da gesehen hat, dachte wahrscheinlich, ich mache Treppengymnastik oder bin etwas kirre“, erzählt die Frau mit den grauen Haaren. Freundliche Augen leuchten hinter der Brille und bilden Lachfältchen. Heute kann sie über ihr Handicap schmunzeln. Damals war das alles eine riesige Belastung. „Ich kam immer schlechter von Zuhause fort, bekam Herzrasen in Situationen, bei denen ich dachte, ich hätte sie nicht unter Kontrolle“, sagt sie. Zum Kontrollzwang kam bei ihr noch der Zählzwang. Gehwegplatten, die Stifte im Etui, die Schläge der Kirchturmuhr: Alles wurde gezählt. Wenn dann der Rhythmus nicht stimmte oder nicht alles perfekt genau an seinem Platz lag, wälzte sich Liane nächtelang schlaflos im Bett. Die Gedanken kreiselten, wo der „Zählfehler“ gelegen haben könnte. Diese Zwänge bestimmten ihr Leben.

Anton C.*, der beruflich mit Autos zu tun hat, bekam eines Tages Angst vor Fahrzeugen, genauer vor Autobatterien. Was völlig unlogisch klingt, wurde zur absoluten Qual für den 45-jährigen Familienvater und führte soweit, dass er zum Schluss nicht mal mehr das Lenkrad seines eigenen Fahrzeugs anfassen konnte. Um sich vor der Batteriesäure zu „schützen“, schrubbte sich der Mann unter der Dusche die Schultern blutig. Aus dem Angstzwang wuchs der nächste Zwang – der des ständigen Waschens.

Drei Menschen, drei reale Schicksale in der Löbauer Region. Die beiden Frauen und der Mann sind bei Weitem nicht die Einzigen, die unter Zwangserkrankungen leiden. „Diese Erkrankungen sind stärker verbreitet als früher angenommen wurde. Es kann davon ausgegangen werden, dass etwa zwei von 100 Menschen im Laufe ihres Lebens eine Zwangserkrankung entwickeln“, erklärt Ronald Schlosser. Er ist der Leitende Psychologe des Sächsischen Krankenhauses in Großschweidnitz. Unter anderem werden dort Menschen mit solchen Erkrankungen behandelt. Voriges Jahr waren das in Großschweidnitz 17 Patienten. 2016 stieg die Zahl der Behandelten bereits jetzt auf 22.

Menschen mit einer Zwangserkrankung benötigten sehr lange Zeit, bis sie sich einem Arzt anvertrauen. „Teilweise vergehen Jahre, bis der erste Schritt durch die Betroffenen gegangen wird“, so die Erfahrung des Psychologen. Ursache hierfür sei unter anderem, dass sie wenig Verständnis für diese Störung von der Gesellschaft erhalten.

Das bestätigen auch die drei Teilnehmer der Löbauer „Selbsthilfegruppe für Menschen mit Zwangserkrankungen und Angehörige“ (SHG). Deshalb ist der offene Umgang damit auch nicht einfach für jeden. Liane, Birgit und Anton besuchen die SHG. Die besteht seit genau zehn Jahren. Es ist die einzige ihrer Art, die es im Landkreis gibt. „Wir können uns austauschen über unsere Probleme und Erfahrungen, lachen aber auch oft miteinander“, erzählt Frau A. Man sei zwar eine Gruppe für Zwänge, aber völlig zwanglos.

Bei Tee und Schokolade kommt man miteinander ins Gespräch. Bis vor einem Jahr war die SHG noch in den Räumen beim ASB Löbau untergebracht. Da dort Baumaßnahmen anstanden, musste ein neues Domizil gefunden werden. Die Landeskirchliche Gemeinschaft in Löbau stellt seitdem einen Treffpunkt bereit. Unterstützung gibt es vom Sozialpsychiatrischen Dienst Löbau und der Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfe (KISS) Weißwasser.

Die drei Erkrankten haben vor der SHG den Weg zum Arzt und in Therapien gefunden. Heute geht es Anton und Liane bedeutend besser. Sie meistern ihren Alltag, haben Hobbys und Anton kann wieder arbeiten. Birgit bereitet sich auf einen Klinikaufenthalt Anfang des kommenden Jahres vor. Mut und Zuversicht schöpft sie aus den Austauschmöglichkeiten der Löbauer Selbsthilfegruppe.

* Die Namen wurden auf Wunsch der Betroffenen anonymisiert.