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Was will die Hamas?

Die wollen keine Eskalation, dachten viele Experten. Sie und Gazas Bevölkerung werden nun überrascht.

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© Reuters

Von Gil Yaron, Tel Aviv

Mindestens viermal seit Beginn des Krieges in Gaza am 8. Juli waren israelische Militärs sich sicher, dass ein Waffenstillstand unmittelbar bevorstünde: „Wenn Hamas-Funktionäre während der Kampfpause aus ihren Bunkern steigen, die Zerstörung sehen und mit der leidenden Bevölkerung in Berührung kommen, werden sie erkennen, dass der Beschuss Israels ihnen nichts bringt“, sagten hochrangige Offiziere immer wieder – und irrten. Kurz bevor die vereinbarten Waffenruhen offiziell auslaufen sollten, flogen bislang stets wieder zig Raketen auf israelische Städte. Am Sonntag brachen die Islamisten sogar eine selbst verkündete Waffenruhe nur drei Minuten, nachdem sie begann. So auch am Mittwoch, als die Hamas eine von Israel einseitig verkündete humanitäre Kampfpause mit Raketensalven beantwortete. Warum stellt sie das Feuer nicht ein?

An mangelndem Leidensdruck in Gaza liegt das kaum: „So heftige Bombardements wie jetzt habe ich hier noch nie erlebt“, sagt der palästinensische Politologe Mkhaimar Abusada aus Gaza, mit verheerenden Folgen, für Zivilisten und die Hamas: Mehr als 1.200 Palästinenser wurden getötet, ganze Familien mit Frauen und Kindern, aber auch Hunderte Hamas-Kämpfer. Mehr als 3.000 Ziele wurden angegriffen, Hunderte Häuser zerstört und Tausende beschädigt, aber auch ein großer Teil der militärischen Infrastruktur der Islamisten. Und dennoch schießt die Hamas weiterhin Raketen im Minutentakt auf Israel

. „Jeder steht hinter der Hamas, solange sie Israel erheblichen Widerstand leistet und Schaden zufügt“, sagt Abusada. Niemand nehme es den Islamisten übel, dass sie Tausende Tonnen Beton und Millionen von Dollars verwandten, Angriffstunnel nach Israel zu bauen statt Schulen und Krankenhäuser: „Solange sie damit Soldaten töten, zollt man ihnen dafür Respekt“, sagt Abusada.

Doch diese Begründung erklärt nicht, weshalb die Hamas „sich nicht einmal an ihre eigenen Verlautbarungen hält“, wie Israels Premier Benjamin Netanjahu grimmig bemerkte. „Sie steht mit dem Rücken zur Wand“, sagt Elias Zananiri, ein palästinensischer Journalist, der politischen Rivalen der Hamas in Ramallah nahesteht. Vor dem Krieg standen die Islamisten vor dem wirtschaftlichen und politischen Konkurs. Zu Beginn des arabischen Frühlings hatten sie ihren wichtigsten Bündnispartnern, den Schiiten im Iran und in Syrien, den Rücken gekehrt. Als sunnitische Organisation konnte sie es sich nicht leisten, im sunnitisch-schiitischen Konflikt auf der falschen Seite zu stehen. Ohnehin hofften sie vor allem auf Ägypten. Die Muslimbruderschaft, die Mutterorganisation der Hamas, war dort dabei, die Macht zu ergreifen, und so lockte die Aussicht auf ein enges Bündnis mit der größten arabischen Nation.

Anfangs schien dieses Kalkül aufzugehen: Fast alle Raketen, die die Hamas jetzt auf Israel abfeuert, sollen in der kurzen Amtszeit des islamistischen ägyptischen Präsidenten Muhammad Mursi durch den Sinai nach Gaza geschmuggelt worden sein – mit dessen ausdrücklicher Billigung. Doch der Sturz Mursis stürzte die Hamas in eine Krise: Sie war nun völlig allein. Kairo schloss Hunderte Schmugglertunnel zum Sinai, die die wichtigste Geldquelle der Islamisten waren. Nun standen sie vor dem Bankrott. „Mit dem Beschuss Israels kämpft die Hamas sich zurück ins internationale Bewusstsein“, sagt deswegen Zananiri. Die Islamisten wollen deutlich machen, dass ihr Rivale Mahmud Abbas irrelevant ist. Erst am Dienstag dementierte die Hamas deswegen eine Aussage von Abbas Sprecher, die Palästinenser seien zu einem 72 Stunden langen Waffenstillstand bereit. So machten sie klar: Nur wer die Raketen kontrolliert, hat in Gaza das Sagen. „Die Hamas genießt den vollen Rückhalt der Bevölkerung“, weiß Politologe Abudasa. Der ist ihr aber nur sicher, wenn sie auch Ergebnisse liefert: „Ihre militärischen Erfolge werden nicht als Rechtfertigung genügen. Nur eine Öffnung der Grenzübergänge.“

Eine heikle Frage. Denn die Hamas will einen See- und einen Flughafen, „weil sie weiß, dass Landübergänge von Ägyptern oder Israelis überwacht werden. Ohne sie werden sie nie wieder aufrüsten können“, sagt Zananiri. Deswegen ist es unwahrscheinlich, dass Jerusalem oder Kairo den Forderungen der Hamas nachkommen. Und so erhöhen beide den militärischen Druck auf die Hamas. Die Verheerung scheint dabei erstmals dem gesellschaftlichen Zusammenhalt im Landstrich zu schaden: „Immer mehr Menschen kritisieren die Hamas hinter vorgehaltener Hand, sehen den schweren Preis, den dieser Krieg uns abverlangt. Der Druck, das Feuer einzustellen, wächst. Und wenn Ruhe einkehrt, werden viele fragen, was die Hamas für uns erreicht hat“, sagt Abusada.