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Was leere Zettel erzählen

Das Theater Junge Generation führt Schüler mit dem neuen Projekt „Kinder auf der Flucht“ über Fantasie zur Empathie.

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© Norbert Neumann

Von Nadja Laske

Erinnerungen im Quadrat. Klein und weiß auf Notizzetteln. Anke Engler teilt die leeren Blätter aus. Jedes Kind bekommt drei Stück. Polaroids sollen sie daraus machen – ganz ohne Kamera und Film. Nur mit ihren Gedanken. „Woran denkt ihr, wenn ihr das Wort Heimat hört?“, fragt die Theaterpädagogin.

Drei Erinnerungsfotos dürfen die Mädchen und Jungen mit auf ihre imaginäre Reise, fort aus der gewohnten Umgebung, nehmen. Eins von sich selbst an ihrem Lieblingsort. Eins von Menschen, die ihnen wichtig sind. Eins von einem lieb gewonnenen Ding. Nun sollen sie sich gegenseitig davon erzählen. „Auf diesem Foto bin ich in der Amerika-Gedenkbibliothek Berlin zu sehen“, ruft Sina und hält einen ihrer drei Notizzettel hoch. Fragende Blicke ringsum. „Und warum?“, wollen ihre Freundinnen wissen. „Weil die so schön groß ist. Ich stehe hier im Foyer“, erklärt die Fünftklässlerin mit ernstem Gesicht.

Bei den Großeltern im Garten, mit Freunden beim Kicken, Hund und Katz kuschelnd auf dem Sofa, Nintendo spielend im Bett sehen sich die Schülerinnen und Schüler der Christlichen Schule. Sie gehören zu den insgesamt rund 200 Besuchern im Theater Junge Generation, die in Gedanken „Kinder auf der Flucht“ begleiten. So heißt der Projekttag, zu dem das TJG eingeladen hat, ein neues Angebot für Mädchen und Jungen der Klassen fünf und sechs. Augenblicke des Glückes und der Geborgenheit halten sie nun auf ihren Fotos fest. Alles, was sie niemals vermissen wollen. Kein einziges Kind zweifelt das blanke Blatt in seinen Händen an. Es ist ein Foto, ganz sicher, ohne Zweifel. Kindliche Fantasie – ein Tor zur Empathie. Darauf bauen die Theaterpädagogen.

Der Tag hat mit diesem Workshop begonnen. Im Anschluss steigen die Mädchen und Jungen bis hinauf unters Theaterdach. Dort umhüllt sie Dunkelheit. So schützend, wie der Mantel seinen Träger, von dem nun die Rede sein wird. Drei Schauspieler lesen aus dem Buch „Der unvergessene Mantel“, eine Geschichte über das Ankommen in einer fremden Umgebung, das Ringen um Verständnis und Vertrauen und das Trauma, nirgends bleiben zu können. Fotos spielen eine große Rolle im preisgekrönten Jugendroman. Sie bilden die Brücke zwischen früher und heute, sind für die Figuren Beweismittel und Andenken. Eine Art Tagebuch.

Auf dicken Kissen lungernd sind die Schüler dem geheimnisvollen Mantel gefolgt. Rund 40 Socken, aus Winterschuhen geschlüpft, haben sich währenddessen im schummerigen Raum Luft gemacht. Mit dem Sauerstoffgehalt sinkt auch die Energie der Zuhörer. Da kommt die Mittagspause gerade recht. Durchatmen, bewegen, essen und trinken. Der letzte Teil des Tages braucht noch einmal Konzentration – auf eine Lebensgeschichte, die Elfjährige dieser Stadt nicht unbedingt von ihrem Banknachbarn kennen. Aber bald schon werden neue Mitschüler ähnliche Biografien mit in die Klasse bringen.

Lotfi Makhlouf Naili ist ein schmaler junger Mann mit tiefschwarzem Haar und dunkelbraunen Augen. Nach dem Mittag sitzt er auf einem Stuhl im Kreis mit Fünft- und Sechstklässlern, die ihn kennenlernen möchten. Vor 14 Jahren kam Lotfi aus Algerien nach Deutschland und wurde zusammen mit seiner Familie nach Dresden geschickt. Ein Johannstädter Asylbewerberheim war fortan sein Zuhause auf unbestimmte Zeit. Aus dieser Unbestimmtheit wurden sieben Jahre. Sieben Jahre, in denen die Familie, mit dem Aufenthaltsstatuts „Duldung“ versehen, nicht wusste, wohin die Reise gehen wird: Ist das Ziel Alltag mit eigener Wohnung, Arbeit und Zukunft in Deutschland oder Algerien, ein Land das Lotfis Eltern verließen, um sich vor Gewalt in Sicherheit zu bringen? Sieben Jahre, in denen sie nicht arbeiten und die Stadt nicht verlassen durften. „Nur um beispielsweise nach Leipzig zu fahren, mussten meine Eltern einen extra Antrag stellen“, erzählt der 17-Jährige. Das sei sehr umständlich gewesen. „Wenn meine Mitschüler im Morgenkreis über Erlebnisse am Wochenende oder Reisen erzählt haben, war ich oft traurig. Nie wütend, aber doch eifersüchtig.“ Häufig fuhr die Familie in die Heide, versuchte das Schöne in der Nähe zu nutzen. Das Geld war knapp. Am meisten aber belastete die Unsicherheit.

„Und wie ist es jetzt?“, wollen die Schüler wissen. Inzwischen hat die Familie eine Aufenthaltsgenehmigung, befristet auf drei Jahre. Immer wieder drei Jahre. „Wenn meine Eltern acht Jahre lang in Deutschland gearbeitet haben, können sie beantragen, für immer zu bleiben“, erklärt Lotfi. Die Kinder wollen ihn in seiner Landessprache sprechen hören, möchten wissen, ob er deutsches oder arabisches Essen lieber mag, ob ihm sein Geburtsland fehlt, was er nach dem Abitur vorhat und wie er so viele Sprachen sprechen lernen konnte: Arabisch, Französisch, Englisch, Deutsch.

„Und welche Tipps für den Umgang mit ausländischen Mitschülern hast du?“, fragt eine Theaterpädagogin. „Offenheit, Neugier und Mut“, rät Lotfi. „Fragt Flüchtlinge ruhig nach ihrem Weg nach Deutschland! Helft ihnen beim Deutschlernen, spielt gemeinsam Fußball.“ So können sie endlich ankommen und einen Teil ihres Fotoalbums mit neuen Bildern füllen.

www.tjg-dresden.de