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„Was, ich? Das gibt’s doch nicht!“

Mit gerade einmal 49 Jahren erkrankte Heiko Glaser an Demenz. Mit seiner Frau meistert er die Tücken des Alltags.

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© Christian Juppe

Von Henry Berndt

Zwei Finger hoch, drei runter. Oder drei hoch? Wie war das doch gleich? Heiko Glaser sitzt auf seinem Lieblingsplatz, einem dunklen Kunstledersessel im Wohnzimmer, guckt auf seine Hand und grübelt. „Ein Bier, bitte“ sagt er dann und grinst. „Du meinst: Fünf Bier für die Männer vom Sägewerk“, hilft ihm schließlich seine Frau Cornelia. Das sollte ein Witz werden. Der frühere Tischler, dem tatsächlich so manche Fingerkuppe fehlt, hat ihn sicher schon tausend Mal erzählt. Nie fiel es ihm schwerer als jetzt.

Heiko Glaser leidet an Frontotemperaler Demenz, verursacht durch einen Abbau von Nervenzellen im Stirn- und Schläfenbereich. „Zieh doch mal deine Schuhe aus“, sagt Cornelia zu ihm, „Du bist ne Maus“, antwortet er. „Die habe ich doch gerade erst angezogen.“ „Ja, aber das sind Straßenschuhe.“ „Wir sind doch auf der Straße.“ Die Schuhe bleiben an. Das Gespräch endet ergebnislos, wie so viele in diesen Tagen. Heiko Glaser versucht, noch immer so zu erscheinen, als sei er jederzeit Herr der Lage. Sein verkrampftes Lächeln wirkt dabei manchmal fast verzweifelt.

Vor acht Jahren gab es bei ihm die ersten Anzeichen. Auf einmal hatte er Probleme, die Fernsehsender auf der Fernbedienung einzustellen. „Dabei ist er ein totaler Fernsehfreak“, sagt seine Frau. Damals war er gerade mal 49 Jahre alt. Heute, mit 57, braucht es keine Experten mehr für die Diagnose. Überall in der Wohnung liegen kleine gedruckte Schilder, die seine Frau selbst einlaminiert hat, weil er die Zettel sonst immer weggeworfen hat. „Tabletten 10.30 Uhr“ steht auf einem, auf einem anderen „Katzenklo sauber machen“.

Besonders mit dem logischen Denken hat Heiko Glaser inzwischen große Probleme, selbst bei den alltäglichsten Dingen. Er telefoniert mit der Fernbedienung, geht zur Tür, wenn das Telefon klingelt, oder zieht sich das Hemd als Hose an. „Was, ich?“, fragt er überrascht, als seine Frau davon berichtet. „Das gibt’s doch nicht.“

Trotz seiner Probleme muss er manchmal auch allein klarkommen, wenn Cornelia tagsüber nicht da ist und ihm nur die Katzen Marcy und Susi Gesellschaft leisten. Cornelia Glaser arbeitet Vollzeit als Sekretärin in einem Büro. Drei Tage in der Woche verbringt ihr Mann in der Tagespflege, einen Tag hat er Ergotherapie, einen bleibt er ganz in der Wohnung in einem Plattenbau in Omsewitz.

Dass vergleichsweise junge Menschen an Demenz erkranken, ist selten. Nach Schätzungen der Deutschen Alzheimer Gesellschaft sind weniger als zwei Prozent aller Demenzpatienten in Deutschland jünger als 65 Jahre. Häufig ist die Demenz in jungen Jahren Begleiterscheinung einer anderen Erkrankung – so auch bei Heiko Glaser. Schon 1997, mit 37 Jahren, wurde bei ihm Parkinson diagnostiziert. Damals zitterte sein Arm schon seit einer ganzen Weile, doch die Familie wollte das Offensichtliche nicht wahrhaben. Eine MRT-Untersuchung brachte die Gewissheit.

Das Berufsleben von Heiko Glaser war damit beendet. Mehr und mehr peinigten ihn die Parkinson-Symptome wie das sogenannte „Freezing“ – eine plötzlich auftretende Blockade des ganzen Körpers. Immer wieder stürzte er schwer, einmal auch rückwärts in die Glasvitrine. Ein kleines Wunder, dass er sich bislang nur einmal das Schlüsselbein brach.

Sensoren im Kopf

An ganz schlimmen Tagen spielte auch Heiko Glasers Psyche schon verrückt. „Er saß allein auf der Couch und unterhielt sich mit George Clooney und Robert Redford.“ Das war kein psychiatrisches Phänomen, sondern ein neurologisches, wie Untersuchungen zeigten.

Irgendwann begann auch seine Frau unter den Umständen zu leiden. Schwere Depressionen machten sich in ihrem Kopf breit. „Der ganze Stress, ich konnte einfach nicht mehr“, erinnert sich die 54-Jährige. „Ich bin nach Hause gekommen und habe ihn nur noch angebrüllt.“ Oft vergaß sie, dass ihr Mann ihr nicht absichtlich das Leben schwermacht. Erst die richtigen Medikamente brachten die Wende.

Heute kann Cornelia über viele Dinge lachen, die ihr Mann so anstellt. „Zurzeit hat er eine Phase, in der er permanent irgendetwas sucht“, sagt Cornelia Glaser. Neulich war einen ganzen Samstag lang der Schlüssel weg. Nachts träumt er wild, schlägt um sich und schreit. Die einzige Lösung: Getrennte Betten.

Als die Medikamentendosis gegen die Parkinson-Beschwerden nicht mehr weiter erhöht werden konnte, nahm Heiko Glaser im Jahr 2015 an einer Studie an der Uni-Klinik teil, in der die „tiefe Hirnstimulation“ getestet wurde. Dabei bekam er eine Art Schrittmacher in die Brust gepflanzt, der über Schläuche mit Sensoren unter seiner Schädelplatte verbunden wurde. Die Narbe auf dem Kopf ist nicht zu übersehen. Die winzigen Stromschläge zeigten Wirkung. „Seitdem geht es viel besser“, sagt er und auch seine Frau schwärmt von der Therapie: „Diese OP kann ich nur jedem Betroffenen empfehlen.“

Fußball spielen, wie früher im Verein, kann Heiko Glaser heute trotzdem nicht wieder. Selbst beim Schwimmen wird ihm schwindlig. Doch viel wichtiger: Wenn er so in seinem Kunstledersessel sitzt, dann zittert sein Arm nicht mehr. Die Demenz lässt sich dagegen nicht aufhalten, nur hinauszögern.

Was sie sich wünschen? Spontan fällt Cornelia Glaser da ein: Dass es bald auch eine Tagespflege für junge Demente in Dresden gibt. „Früh zusammen mit 90-Jährigen zu singen, ist nicht so seins.“ Vor allem aber wünscht sie sich, „dass es noch lange so bleibt, wie es jetzt ist“. „Nee, besser wird“, wirft ihr Mann ein. „Besser wird es nicht mehr“, entgegnet sie. Muss es aber auch nicht. Seit fünf Monaten können sich die beiden an ihrem ersten Enkel erfreuen. Am Wochenende gehen sie gern in Museen. Vielleicht fliegen sie bald mal nach Portugal in den Urlaub. Der Scharmützelsee in Brandenburg würde ihnen aber genauso reichen. Fernsehen geguckt wird immer noch viel, nur lesen mag Heiko Glaser nicht mehr. Da schläft er so schnell ein.

Da helfen nur kleine Denkaufgaben als Muntermacher: „Wann haben wir denn geheiratet?“, fragt sie prüfend. „Die kennste alle ni“, sagt er abwehrend, überlegt dann doch und rät: 1985. Richtig ist 1986. „Und mein Versprechen von damals gilt für immer“, sagt sie und drückt ihren Mann fest an sich. Sie lächeln sich an. Ein Moment, um die Zeit anzuhalten.

Infoveranstaltung „Jung und dement“, 22. Januar 16 bis 18 Uhr, Dresdner Pflege- und Betreuungsverein, Amalie-Dietrich-Platz 3. Anmeldung unter der Rufnummer 0351 4166047 oder [email protected]