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Was denn, ein Indianer ohne Tipi?

Kevin Manygoats wuchs in einem amerikanischen Indianerreservat auf. Nun räumt er in Dresden mit Vorurteilen auf.

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© Sven Ellger

Von Henry Berndt

Gerade war die erste Frau auf Erden dabei, die Sterne einen nach dem anderen am Himmel zu verteilen, da kam der freche Kojote daher und schüttete gleich den ganzen Korb aus. Das Ergebnis nennen wir heute Milchstraße.

Der kleine Kevin wusste lange nicht, was dieses Amerika da draußen, außerhalb des Reservates, eigentlich bedeutet. Erst mit 14 verließ er seine idyllische Welt.
Der kleine Kevin wusste lange nicht, was dieses Amerika da draußen, außerhalb des Reservates, eigentlich bedeutet. Erst mit 14 verließ er seine idyllische Welt. © privat

Die Geschichten vom Kojoten sind ein fester Teil in der Mythologie der Navajo-Indianer. Auch Kevin Manygoats hat sie seinen Söhnen Lysander und Kyran schon oft erzählt, auch wenn ihm die Navajo-Sprache inzwischen nicht mehr ganz so selbstverständlich über die Lippen kommt. „Es ist mir wichtig, dass sie unsere Kultur kennenlernen“, sagt der 47-Jährige.

An seiner Haustür im obersten Stock eines Mietshauses in Striesen prangt statt eines Namensschildes eine Ziege aus Keramik – das Geschenk eines Freundes. Manygoats, sein Nachname, heißt übersetzt „viele Ziegen“. Und seine Eltern hatten wirklich viele Ziegen, damals daheim im Navajo-Reservat im Grenzgebiet der Bundesstaaten Utah, Arizona und New Mexico. 14 Jahre lang wuchs er hier in einer eigenen Welt auf, ohne das „echte“ Amerika zu kennen. Mit ihm lebten dort rund 320 000 Menschen auf einem Gebiet, so groß wie das Bundesland Bayern. Die Navajo Nation Reservation ist das größte Indianerreservat der USA. Erst in der High School in Arizona und später an der North Arizona University lernte er das andere Amerika kennen. Kevin Manygoats studierte Chemie, machte 1998 seinen Abschluss und sattelte bis 2001 seinen Master obendrauf.

Karl May im Kopf

„Wenn ich heute Kindern an Schulen in Dresden von meiner Geschichte erzähle, sind sie manchmal ein wenig enttäuscht“, sagt er. Ein Indianer, der Chemie studiert? Das passt für viele nicht ins Bild. Sie fragen ihn, wo sein Pferd ist und ob er schon mal jemanden mit Pfeil und Bogen getötet hat. Hat er aber nicht. Er wohnt auch nicht im Tipi und bindet niemanden an den Marterpfahl. „Indianer sind heute Ärzte, Anwälte und Wissenschaftler“, sagt Kevin. „Viele haben immer noch die Szenen aus den Filmen von Karl May im Kopf. Doch der hat die Prärie nie gesehen.“

Statt Wasser aus einem reißenden Fluss zu schöpfen, macht sich Kevin an diesem Morgen erstmal einen schönen Kaffee, um halbwegs auf Touren zu kommen. In der Nacht war nämlich der Pro Ball in den USA, ein All-Star-Football-Spiel, das er mit Freunden im Fernsehen gesehen hat. An der High School hat er früher mal selbst gespielt. Heute ist er ab und zu bei den Dresden Monarchs im Stadion. Ansonsten gibt es ja in Deutschland nur diesen eigenartigen Fußball, dessen Regeln er noch nicht so ganz verstanden hat.

Seit 2003 lebt Kevin in Dresden. Seine damalige deutsche Freundin hatte er an der Uni in Arizona kennengelernt und ging mit ihr nach Deutschland. „Die erste Zeit war hart für mich“, erinnert er sich. „Ich kannte niemanden und musste mich vor allem in eine völlig neue Kultur einleben.“ Bereut hat er seinen „großen Schritt“ dennoch nie, auch wenn er bis heute in Dresden keinen anderen Indianer aus Nordamerika kennengelernt hat.

Früher Feinde, heute Nachbarn

An der Bergakademie Freiberg arbeitete Kevin in der Polymerforschung. Irgendwann lief das Projekt aus, und das Geld war alle. Seit einem Jahr ist er arbeitslos. Auch mit seiner Freundin ist er nicht mehr zusammen, sieht seine beiden Söhne aber regelmäßig. „Eigentlich habe ich sogar 14 Kinder“, sagt er, denn in seiner Kultur nennt ihn auch der Nachwuchs seiner sechs Brüder Papa. All diese Kinder versucht er, immerhin einmal im Jahr in den USA zu besuchen. Seltener reist seine Familie auch mal nach Dresden.

Seit zwei Jahren engagiert sich Kevin hier beim Verein Spuren e.V., einem Ableger der amerikanischen Organisation Traces, die durch Vorträge, Seminare und Ausstellungen Menschen verschiedener Herkunft näher zueinander bringen will. Kein schlechter Gedanke, gerade im Dresden dieser Tage. Gegründet wurde Spuren von dem US-Amerikaner Michael Luick-Thrams, der heute kaum 100 Meter von Kevin Manygoats entfernt in Striesen lebt. „Das ist schon Ironie“, sagt Michael, „dass ein Ureinwohner und ein Nachfahre einer Auswandererfamilie, deren Vorfahren sich in den USA bekriegten, heute in Dresden zufällig Nachbarn sind.“ Während Michael die teils offene Ausländerfeindlichkeit in Dresden mächtig auf die Nerven geht, bekommt Kevin sie im Alltag kaum zu spüren. „Von Diskriminierung habe ich noch nichts mitbekommen“, sagt er, hat allerdings auch einen unschätzbaren Vorteil: „Jeder, der erfährt, dass ich Indianer bin, ist begeistert.“ Selbst bei Pegida, wo er anfangs einige Male reinschaute, um sich ein Bild von den Menschen zu machen, die dort mitlaufen.

Vergangene Woche war Kevin in einem Englischkurs im Hans-Erlwein-Gymnasium zu Gast und sprach dort über die Geschichte seines Volkes, aber auch über seine eigene. Er zeigte einen geflochtenen Korb und eine Kette aus türkisfarbenen Steinen, wie sie typisch sind für die Kultur der Navajo-Indianer. Sonst hat er kaum etwas aus seinem Reservat mitgebracht. Zumindest aber einen Teil seiner Kultur. Jeden Morgen begrüßt er die Sonne und alle Himmelsrichtungen. Als er in seine Wohnung zog, vertrieb er zunächst die bösen Geister mit dem Rauch brennender Pflanzen.

Auch seine langen Haare hat sich Kevin Manygoats bewahrt. Der Zopf ist für ihn „wie ein langer Nerv“, der ihn mit der Natur verbindet. Nur einmal, als sich seine Freundin von ihm trennt, hat er ihn abgeschnitten, um seinem Schmerz Ausdruck zu verleihen. Bis heute liegt der Zopf auf dem Kühlschrank.

www.de.traces.org