Merken

Was das Abendland wirklich ist

Das Bündnis Pegida beruft sich auf das Abendland. Doch das Schlagwort hat viele Aspekte. Ein Blick ins Geschichtsbuch.

Teilen
Folgen
© dpa PA/akg-images

Von Werner Patzelt

Zunächst einmal sind „Abendland“ und „Morgenland“ geografische Begriffe. Das Land im Westen, wo die Sonne untergeht („Okzident“), wird einfach unterschieden vom Land im Osten, wo sie aufgeht („Orient“). Wie bei „Mann“ und „Frau“ handelt es sich nicht um ausgrenzende Begriffe, sondern um solche, die unterschiedliche Gegenstandsbereiche in einen gemeinsamen Zusammenhang stellen. Warum aber reden wir vom Abend- und Morgenland, nicht aber auch vom „Mittagsland“ im Süden und vom „Nachtland“ im Norden?

Das hat mit der Ost/West-Ausrichtung jener antiken Mittelmeerzivilisation zu tun, in der unsere heutige Kultur wurzelt. In seiner größten Ausdehnung erstreckte sich das Römische Reich von Gibraltar bis in den jetzigen Irak. Weiter in den Süden als bis zum Norden Afrikas reichte es bloß in Ägypten, und nördlicher als bis zur Donau gelangte es nur im heutigen Nordfrankreich, in England, und – viel weiter ostwärts – in Rumänien. Die Hauptwege von Verkehr und Handel, später auch der christlichen Mission, verliefen deshalb zwischen Ost und West. Erst als dieser Zivilisationsverbund auseinandergebrochen war, gab es gute Gründe, nicht länger Morgen- und Abendland als Teile eines einzigen Ganzen zu denken.

Tatsächlich wurde das „Abendland“ zum festen geografisch-kulturellen Begriff erst im frühen 16. Jahrhundert. Damals waren einesteils alle Grundzüge des heutigen Europa entfaltet; andernteils eroberte das Osmanische Reich die letzten Reste des einst Ost und West verbindenden Römerreiches. Das waren neben Konstantinopel einige wenige Landstriche Griechenlands. Fortan war das „Morgenland“ in jeder Hinsicht etwas anderes als der Okzident.

Das Römische Reich verklammerte gleichsam zwei Hauptkulturen. Da war die seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. im ganzen östlichen Mittelmeerraum vorherrschende, weit in den Mittleren Osten ausstrahlende griechische („hellenistische“) Kultur. Und da war die römische Kultur. Ursprünglich von Bauernsoldaten und vom republikanischen Denken einer Adelsoligarchie geprägt, wandelte sie sich unter dem Einfluss der nach und nach ins Reich gelangenden hellenistischen Gebiete. Wer gebildet sein wollte, musste Griechisch können und sich mit griechischer Kunst umgeben. Hingegen sprachen und dachten Verwaltungsoberschicht und Militär auch im Osten noch jahrhundertelang lateinisch bzw. römisch. Als die Kaiser zwischen dem späten 3. und dem späten 4. Jahrhundert das Reich immer klarer in ein West- und Ostreich aufteilten, wurde der Übergang zwischen dem lateinischen und dem griechischen Kulturraum zur Grenze. Aus Teilen des lateinischen Westreichs entstand das Abendland. Dabei spielten Kriege und Religion eine große Rolle.

Schon seit dem späten 2. Jahrhundert v. Chr. hatten germanische Völker dem Römischen Reich mit Invasionen und Einwanderungsversuchen zugesetzt. Seit dem 4. Jahrhundert zogen unter dem Druck der aus Zentralasien nach Westen ausgreifenden Hunnen immer mehr germanische Völker aus ihren Siedlungsgebieten im heutigen Osteuropa an die römischen Reichsgrenzen. Der oströmischen Regierung gelang es, sie nach Westen abzudrängen. Dort eroberten sie im 5. Jahrhundert das ganze weströmische Reich samt den westlichen Provinzen Nordafrikas. Ihre Reichsgründungen waren aber nur stellenweise von Dauer. Dennoch währten germanische Königreiche in Spanien bis zur arabischen Eroberung im 8. Jahrhundert, in Italien bis zur Rückeroberung durch das (Ost-)Römische Reich im mittleren 6. Jahrhundert. Nur das Reich der Franken, das sich seit dem frühen 6. Jahrhundert zwischen dem heutigen Nordfrankreich und dem Rheinland verfestigte, hielt sich bis heute: Es wurde zum Kernbereich jenes Abendlandes, das seine heutige Form in der Europäischen Union gefunden hat. Allerdings wurde in den Eroberungs- und Rückeroberungskriegen ein Großteil der römischen Infrastruktur zerstört, ja barbarisierte sich die Kultur.

Lange vorher hatte sich im noch vorzüglich funktionierenden Römerreich das zunächst als jüdische Sekte geltende Christentum verbreitet. Anfangs politisch verfolgt, ersetzte diese alt-neue Religion seit dem 4. Jahrhundert den klassischen Götterglauben und viele Mysterienkulte. Indem es seine Lehre mit der zeitgenössischen, stark griechisch geprägten Philosophie verband, wurde es von einer Religion der Unterschichten zu einer auch der Intellektuellen. Obendrein funktionierten seine Institutionen, oft römischen Verwaltungsstrukturen nachgebildet, auch nach den germanischen Eroberungen weiter. Auf diese Weise wandelten sich die ehedem losen Vereinsstrukturen der Christenheit zu einem staatsähnlichen Gebilde. Als „Kirche“ den erst später sich neu verfestigenden politischen Strukturen stabil gegenüberstehend, prägte der so aufgekommene „Dualismus von Kirche und Staat“ jenen Teil der Welt aufs Tiefste, der zum „Abendland“ wurde. Im Ostreich, später in islamischen Reichen aufgehend, kam es nie zu einer derart „staatsunabhängigen“ Ausprägung organisierter Religion.

Zwar barbarisierte sich auch das kultivierte Christentum der Antike, als es von den Germanen übernommen wurde. Trotzdem gelangte das kulturelle Kapital der Antike vor allem über das Institutionengefüge der Kirche ins werdende Abendland. Dort trug es so reiche Zinsen, dass von Europa wenig Erwähnenswertes bliebe, dächte man sich alles weg, was dank Christentum und Kirche entstanden ist. Deshalb hat es tiefen Sinn, vom „christlichen Abendland“ zu sprechen. Es ist aber nicht so, dass Abendland und Christentum zwei Seiten der gleichen Medaille wären. Die okzidentale Ausprägung des Christentums ist nämlich nur eine einzige und gewiss vergängliche Form einer Religion, die in jeder Kultur gedeihen kann.

Im Übrigen wurde das Abendland dadurch geprägt, dass es von seinen mittelmeerischen Wurzeln jahrhundertelang infolge der arabisch-islamischen Expansion des 7. und 8. Jahrhunderts abgeschnitten war. Damals wurde, binnen weniger Jahrzehnte, das gesamte oströmische Reich mit Ausnahme Kleinasiens und Griechenlands erobert. Sogar in den lateinischen Westen rückten arabisch-islamische Heere vor, über Nordafrika und Spanien bis weit hinein ins Frankenreich. Langfristig halten ließen sich die Iberische Halbinsel und der Norden Afrikas. So konnten islamische Reiche die Seewege des westlichen Mittelmeers kontrollieren, ja die Küsten Frankreichs und Italiens bedrohen. Ansonsten lebte, nur islamisch überformt, die Mittelmeerkultur in Reichen fort, die von Spanien in den Irak, ja bis nach Indien reichten. Folge der Bewahrung und Mehrung dieser Kultur war die jahrhundertelang unverkennbare Überlegenheit der islamischen Staaten. Von ihr profitierte vielfach auch das entstehende Abendland.

Jene arabisch-islamischen Reiche wurden später von islamisierten Turkvölkern erobert. Deren erfolgreichste Dynastie unterwarf seit dem 11. Jahrhundert auch noch den Rest des Oströmischen Reiches. Seitdem stand das Osmanische Reich als „islamisches Morgenland“ dem „christlichen Abendland“ gegenüber. Es griff über den Balkan nach Ungarn und versuchte 1529 und 1683, obendrein Wien als Kaiserstadt des „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“ zu erobern. Doch dafür war das mittlerweile entstandene Abendland zu stark geworden. Sich nun allein in der Traditionslinie des (West-)Römischen Reiches sehend, hatte es nicht nur Spanien zurückerobert, sondern schaffte Gleiches auch in Ungarn und später auf dem Balkan.

Denn längst schon hatten die aus der Völkerwanderung hervorgegangenen Reiche in den ehedem heidnischen Norden sowie, gleichfalls christianisierend, ins slawisch gewordene Mittel- und Osteuropa ausgegriffen. Das gelang bis hin zu jenen Grenzen, die dort zunächst der Einflussbereich Ostroms, dann der Mongolen und später eines Russland zogen. So war ein Machtblock entstanden, der wenige Jahrhunderte später einen Großteil der Erde beherrschen konnte.

Die Grundlagen für Europas kulturelle und technische Führungsrolle wurden seit dem Hochmittelalter durch Landesausbau und Geldwesen, obendrein durch Wertschätzung handwerklichen Könnens und stadtgesellschaftlicher Initiative geschaffen. So wurde eine seit dem 15. Jahrhundert immer mehr Kontinente einbeziehende Kolonial- und Imperialpolitik möglich. Im Inneren schuf der Dualismus von Staat und Kirche vielerlei Spannungs- und Freiräume von Denken, Kunst und politischer Organisation, die mannigfache Modernisierung erlaubten. Hinzu kam der Dualismus von starken Ständevertretungen und oft eher schwachen Monarchen. Er führte zur Einschränkung von Willkürherrschaft, zum Aufkommen von Gewaltenteilung und zur Entstehung von Parlamentarismus. Aufklärung und Industrielle Revolution fügten noch Liberalismus, Sozialstaatlichkeit sowie auf Parteien gestützte Demokratie hinzu, die Kriege des 20. Jahrhunderts das Verlangen nach Friedlichkeit.

Das alles kennzeichnet unser heutiges Europa und verdient, bewahrt zu werden. Vieles davon können andere Kulturkreise übernehmen. Es sind gleichsam wertvolle Früchte, die am Baum abendländischer Kultur gewachsen sind. Doch erst musste dessen Stamm hochkommen. Das aber wäre nicht möglich gewesen ohne tiefe Wurzeln in der Mittelmeerkultur, die epochenüberspannende Rolle des Christentums sowie die Abwehr islamischer Reiche.

„Abendland“ und „Abwehr von Islamisierung“ haben also wirklich miteinander zu tun – nämlich in der Geschichte. Der Blick in die Zukunft lässt freilich erkennen: Gute Chancen gibt es dafür, dass ein Islam, der die kulturellen und politischen Errungenschaften des Abendlandes annimmt, ebenso in die Tradition europäischer Kultur eintreten kann, wie das einst den Germanen mit der römischen Zivilisation gelang. Nur sollte man dem damaligen Beispiel nicht darin folgen, dass erst einmal vieles von dem aufs Spiel gesetzt wird, was man doch gleich zum wechselseitigen Vorteil nutzen könnte.