Merken

Warum Weinhübel wieder wächst

Die Einwohnerzahl des Görlitzer Stadtteils ist seit der Wende stetig gesunken. Seit Mai hat sich die Kurve plötzlich umgekehrt.

Teilen
Folgen
© Pawel Sosnowski/80studio.net

Von Ingo Kramer

Xhirjoles Allkushi lächelt noch ein bisschen zurückhaltend. Nein, erklärt die junge Mutter freundlich auf Italienisch, Deutsch könne sie leider noch nicht. Englisch auch nicht. Aber, ja, ihr gefalle es gut hier am Deutsch-Ossig-Ring in Weinhübel. „In Albanien hatten wir ein schlechtes Leben.“ Jetzt ist sie mit ihrer kleinen Tochter seit sechs Monaten in Deutschland. Zuerst in Chemnitz, dann in Boxberg und nun, seit einem Monat, in Weinhübel. „Hier möchten wir bleiben“, erklärt sie.

Amaida Tomorica lebt im Nachbarhaus. Auch sie stammt aus Albanien, ist über den Umweg Griechenland ebenfalls vor sechs Monaten nach Deutschland gekommen. Mit den Nachbarn verstehe sie sich gut, sagt sie. Xhirjoles Allkushi berichtet sogar stolz, dass sie sich mit deutschen Nachbarn zum Kaffeetrinken treffe. Und wie unterhalten sie sich? Die junge Frau lächelt wieder. Und zeigt auf ihre Hände und Füße.

Die Stadtverwaltung hat jetzt indes ihre statistischen Monatszahlen für den Juni veröffentlicht. In Weinhübel, wo Amaida Tomorica und Xhirjoles Allkushi seit Kurzem mit ihren Familien leben, zeigt die Tendenz klar nach oben: Ende Juni lebten hier 50 Menschen mehr als Ende Mai. Dieser Trend ist vollkommen neu. Seit der Wende vor einem Vierteljahrhundert geht die Einwohnerzahl eigentlich immer nur bergab. Noch im Jahr 2003 lebten hier 6440 Menschen, Ende 2011 waren es nur noch 5483, Ende 2014 dann 5 223 und Ende April dieses Jahres schließlich noch 5 217.

Nun sind es also plötzlich wieder 5 285. Liegt der Zuwachs an den Albanern oder gibt es noch ganz andere Gründe? Eines kann die Stadt schon einmal ausschließen: Viele Geburten. Im Juni etwa wurden drei kleine Weinhübler geboren, aber fünf Einwohner starben. Bleibt also nur eine Erklärung: Zuzug. So ist es tatsächlich. Zwischen Dezember vorigen und Juni dieses Jahres stieg die Zahl der deutschen Einwohner um sechs. Bei anderen Nationen waren es teilweise mehr: Albanien (+16), Polen (+15), Kosovo (+14), Syrien (+6) und Libanon (+4).

Interessant ist ein Blick auf das Durchschnittsalter. Während Weinhübel insgesamt mit rund 56 Jahren der Stadtteil mit dem höchsten Durchschnittsalter in ganz Görlitz ist, sind die 166 gemeldeten Ausländer im Durchschnitt Mitte 30 und damit weitaus jünger als die Deutschen. 105 Ausländer sind null bis 40 Jahre alt, aber nur 61 sind 41 Jahre und älter. Von einem Flüchtlingsansturm kann in Weinhübel aber trotz allem keine Rede sein: 91 von den 166 Ausländern stammen aus Polen.

Hartmut Wilke, Leiter des Amtes für Stadtentwicklung, hat den Zuwachs in Weinhübel auch schon bemerkt. „Es ist aber bisher nicht unsere Absicht, neue Bewohner gezielt nach Weinhübel zu locken“, sagt er. Die Belebung der Innenstadt stehe an erster Stelle. Doch Weinhübel werde auch nicht aufgegeben. Jeder, der das möchte, solle in Weinhübel wohnen können. Eine konkrete Begründung für den Zuwachs in Weinhübel hat Wilke nicht: „Ich kann auch noch nicht sagen, ob sich hier der Beginn eines neuen Trends abzeichnet, oder ob der jetzige Zuwachs eine Ausnahme darstellt.“ Dazu müssen die Zahlen langfristig beobachtet werden.

Die vier Weinhübler Großvermieter nehmen die Entwicklung des Stadtteils durchweg positiv wahr. Bernd Hornig, Vorstand der Wohnungsgenossenschaft WGG, spricht von einem leichten Zuzug seit Anfang des Jahres: „Das hängt mit dem verbesserten Image von Weinhübel als ruhiger, grüner Stadtteil mit guter Infrastruktur zusammen.“ Flüchtlinge sind bei der WGG nicht eingezogen: „Wir sind angefragt worden, hatten aber keine Vierraum-Wohnungen frei.“ Stattdessen seien Deutsche und Polen zugezogen. „Bei polnischen Mitbürgern ist Weinhübel sehr beliebt“, sagt Hornig. Im Mai und Juni hatte die WGG in Weinhübel zwei Neuzugänge. Ihr Leerstand liegt hier bei unter zehn Prozent.

Frank Heuer, Vorstand der Genossenschaft GWG, registriert ebenfalls einen verhaltenen Anstieg der Nachfrage. „Der Zuwachs hat nach meiner Erkenntnis nichts mit Flüchtlingen zu tun, sondern mit dem Interesse der Menschen an der geografischen Lage des Stadtteiles und der guten Infrastruktur.“ Heuer lobt zudem die gepflegten Außen- und Grünanlagen, die Nähe zum Berzdorfer See und zum Radwanderweg. Zwischen März und Juli konnte die GWG in Weinhübel fünf Mietparteien ein neues Zuhause anbieten. Darunter waren zwei junge Familien, ein Seniorenehepaar und zwei Familien mittleren Alters.

Grit Zobel von der TAG Immobilien AG ist in Weinhübel für 74 Wohnungen zuständig. Der Leerstand war hier nie hoch, erklärt sie. Im Mai waren gerade einmal drei Wohnungen frei. Zwei davon sind inzwischen vermietet, die eine an Rentner, die andere an Berufstätige. Beide Wohnungen haben deutsche Mieter gefunden, die ganz neu nach Görlitz zugezogen sind.

Die größten Bewegungen verzeichnet indes der größte Weinhübler Vermieter: Die städtische Tochtergesellschaft Kommwohnen. Im ersten Halbjahr sind 26 Personen zu- und 26 ausgezogen, sagt Prokuristin Luzie Körner. Hinzu kamen acht Todesfälle. 18 Wohnungen wurden somit belegt, aber auch 18 frei. Die Zuzügler waren meist noch recht jung: 20 von 26 gehörten zur Altersgruppe null bis 40 Jahre.

Nicht in diesen Zahlen eingerechnet sind allerdings die Asylbewerber. „Die haben wir ausschließlich am Deutsch-Ossig-Ring untergebracht“, bestätigt Luzie Körner. Im Mai wurden die ersten drei Wohnungen belegt, im Juni weitere neun und im Juli bisher zwei. Nun leben hier 53 Asylbewerber in 14 Wohnungen. Amaida Tomorica und Xhirjoles Allkushi sind also nur zwei von 53. Mehrere befragte Nachbarn bestätigen, dass das Zusammenleben relativ problemlos funktioniert. „Eigentlich sind sie ganz ruhig, nur abends bis halb oder um zehn ist es manchmal etwas lauter“, sagt etwa Sabine Berndt. Kontakte zu den neuen Nachbarn habe sie aber nicht: „Die sprechen ja kein Deutsch.“ Das bestätigt auch eine Frau aus dem Nachbarhaus. Aber die Leute seien alle nett: „Das sind ja alles Familien mit Kindern und keine alleinstehenden Männer.“