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Warum Görlitz für Senioren attraktiv ist

Rüstige Rentner wie Jürgen Fromberg zieht es an die Neiße. Ein Trend, der der Stadt hilft.

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© Nikolai Schmidt

Von Christin Meissner

Görlitz. Als Jürgen Fromberg Görlitz zum ersten Mal sah, funkte es sofort. Dieser mittelalterliche Altstadtkern, die vielen prachtvoll sanierten Häuser aus der Gründerzeit – in seinem Heimatort Ingelheim und auch im benachbarten, während des Zweiten Weltkriegs fast völlig ausgebombten Mainz gab es nichts Vergleichbares. Das könnte doch ein guter Alterswohnsitz werden, dachte sich Görlitz-Tourist Fromberg und wollte es genauer wissen. Beim kostenfreien Probewohnen testete er aus, ob aus dem anfänglichen Funken Liebe werden könnte. „Ich habe mich hingesetzt und eine Checkliste geschrieben mit Punkten, die mir im Alter wichtig sind. Darunter Mietpreise, Lebenshaltungskosten, medizinische Infrastruktur und Kulturangebot“, erzählt der heute 77-Jährige. Der Sieger am Schluss: die ostsächsische Neißestadt. Und das, obwohl auch die spanische Costa Brava und die türkische Riviera mit zur Wahl standen.

Bei 18 Prozent Leerstand war eine Wohnung schnell gefunden. 110 Quadratmeter, hohe Decken, Stuck und Flügeltüren. Mietpreis: inklusive Nebenkosten rund 700 Euro. Ein Faktor, der seine Rente merklich aufwertete, denn in Ingelheim musste Fromberg für eine vergleichbare Fläche gut 300 Euro mehr auf den Tisch legen. In Wiesbaden, auf der anderen Rheinseite, hätte er für ein ähnliches Wohnniveau sogar kaum etwas unter 1 400 Euro warm bekommen. Also brach der pensionierte Diplomingenieur 2010 all seine Zelte ab und zog vom Rhein an die Neiße.

Menschen wie Jürgen Fromberg sind ein Segen für Städte wie Görlitz. Seit dem Mauerfall hat die Stadt ganz im Osten der Republik rund ein Viertel ihrer einst über 72000 Einwohner verloren. Seit 2013 ziehen aber wieder mehr Menschen zu- statt fort. Knapp 20 Prozent der Neugörlitzer sind dabei 50 Jahre und älter, stammen vor allem aus Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Bayern. „Senioren kommen aus Großstädten und Ballungsgebieten, aber auch aus Wohnlagen, die etwas abseits liegen und deshalb für das Leben im Alter durch weite Wege zum Einkauf oder Arzt nicht besonders geeignet sind“, sagt Sylvia Otto aus dem Görlitzer Rathaus. „Viele verfügen über gute Renten, wollen diese aber nicht für hohe Lebenshaltungskosten, sondern lieber für Kultur und Reisen ausgeben.“

Immer mehr Senioren über 65 Jahren ziehen in Deutschland um: Waren es 1995 noch rund 210000, wechselten laut Statistischem Bundesamt 2013 bereits fast 260000 Senioren ihren Wohnort. „Die Motive sind dabei ganz unterschiedlich“, sagt Klaus Friedrich, Professor für Sozialgeografie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. „Die Mehrheit, rund 41 Prozent, greift auf familiäre Netzwerke zurück und zieht im Alter zum Beispiel in die Nähe der Kinder. Ein Drittel nennt schlechte Wohn- und Lebensbedingungen am Herkunftsort als Ursache, ein Fünftel entscheidet sich für die klassische Ruhesitzwanderung.“ Besonders der Osten Deutschlands profitiere – im Gegensatz zu den Nachwendejahren – von den umzugsfreudigen Senioren, sagt Demografie-Experte Friedrich. Und: Während die Jungen in die Metropolen pilgern, entscheiden sich die über 65-Jährigen als einzige Altersgruppe gegen diesen Trend. Beispiel München: Die bayerische Landeshauptstadt hat zwischen 2003 und 2013 jährlich per saldo gut 1 200 Einwohner im Alter von 50 bis 64 Jahren und weitere rund 2 000 Einwohner im Alter von mehr als 65 Jahren durch Fortzüge verloren. Alternative Wohnlagen finden die Ex-Großstädter vor allem in landschaftlich schönen Regionen, in kleinen und mittleren Städten mit Kultur- und Freizeitangeboten sowie guter Infrastruktur. Wie beispielsweise in Weimar. Explizit um die Zielgruppe der Senioren geworben hat die thüringische Stadt nie. „Die Älteren kommen von ganz allein“, sagt Mark Schmidt vom Stadtmarketing. So verzeichnet Weimar seit 2001 rund 4 000 Zuzüge pro Jahr und ist damit eine der wenigen Städte des Bundeslandes, deren Einwohnerzahl seit Jahren wächst. Rund elf Prozent der Neubürger sind älter als 50 Jahre.

Ex-Rheinländer Jürgen Fromberg ist mittlerweile nochmals umgezogen. In eine stattliche 163-Quadratmeter-Wohnung mit seiner neuen Lebensgefährtin. Er ist angekommen in Görlitz. Die nun um rund fünf Stunden längere Bahnfahrt zu seinen Kindern nehme er dabei gern in Kauf: „Ich fühle mich hier einfach rundum wohl. Die Entscheidung bereut habe ich nie.“

Siehe auch www.7jahrelaenger.de; eine Initiative der Deutschen Versicherer.