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„Warum bloß machen sie das mit den Leuten?“

Hoffnungsvoll steigen Hunderte Flüchtlinge in Budapest in Züge. Doch die Fahrt ist kurz.

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Von Kathrin Lauer, Budapest

Sechs Jahre hat Azatullah Sidiqi in Afghanistan für die US-Streitkräfte als Dolmetscher gearbeitet, jetzt steht der 26-Jährige am Budapester Ostbahnhof - ohne Papiere, ohne Gepäck und mit nur noch 25 Euro in der Tasche. „Wenn ich gewusst hätte, dass es soweit kommt, wäre ich gar nicht erst aufgebrochen“, sagt er, entnervt, nach vier Tagen und Nächten am Bahnhof der ungarischen Hauptstadt. Alle seine Habseligkeiten, auch der nagelneue Schlafsack, seien gestohlen worden.

Familien haben Angst, getrennt zu werden.Foto: Reuters / L. Balogh
Familien haben Angst, getrennt zu werden.Foto: Reuters / L. Balogh © Reuters
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Völkerwanderung? Viele Flüchtlinge sind zu Fuß auf dem Weg durch Europa; hier vor der mazedonischen Grenze.
Völkerwanderung? Viele Flüchtlinge sind zu Fuß auf dem Weg durch Europa; hier vor der mazedonischen Grenze. © Getty Images
Immer wieder zeigen Flüchtlinge das Ziel ihrer Wünsche: Deutschland.Fotos: dpa
Immer wieder zeigen Flüchtlinge das Ziel ihrer Wünsche: Deutschland.Fotos: dpa © dpa
Immer wieder zeigen Flüchtlinge das Ziel ihrer Wünsche: Deutschland.Fotos: dpa
Immer wieder zeigen Flüchtlinge das Ziel ihrer Wünsche: Deutschland.Fotos: dpa © dpa

Den Zug, der gerade eben Richtung Sopron abgefahren ist, zur österreichischen Grenze, hat er verpasst. Er weiß noch nicht, dass die ungarische Polizei diesen Zug eine halbe Stunde später und 37 Kilometer weiter in Bicske anhalten wird, wo es ein Flüchtlingslager gibt. Dort forderte die Polizei die Flüchtlinge auf, den Zug zu verlassen. Offenbar gab es einen vorher nicht veröffentlichten Plan, die Flüchtlinge in dieses Lager zu bringen. Denn in Bicske standen 20 Busse und Dolmetscher bereit.

Die Flüchtlinge wehrten sich aber laut ungarischen Medienberichten gegen den Transport ins Lager. „No camp, no camp“, hätten die Menschen gerufen, die mehrheitlich aus Kriegsgebieten im islamischen Raum geflohen waren. Die Polizei soll die aufgebrachte Menge dann wieder auf den Bahnsteig zurückgedrängt haben.

Bis zum frühen Morgen hatte die Polizei den Budapester Ostbahnhof für Flüchtlinge gesperrt, die seit Tagen zu Tausenden unter verheerenden hygienischen Bedingungen in dessen Umgebung kampieren mussten. Dann gaben die Ordnungshüter die Zugänge überraschend frei. Zugleich stoppte die ungarische Eisenbahngesellschaft MAV alle direkten Zugverbindungen nach Westeuropa.

Die Flüchtlinge, von denen viele kaum eine Fremdsprache beherrschen, waren völlig ratlos. „Wo ist Sopron?“, fragte der 25-jährige Khalil aus Afghanistan. Der studierte Agronom aus der afghanischen Provinz Panshir will zusammen mit vier Freunden nach Deutschland, Tickets nach München haben sie in der Tasche. Aber ist das der richtige Zug? „Warum einigen sich die EU-Länder nicht auf eine Flüchtlingspolitik?“, klagte er.

Völlig ratlos hockt auch die siebenköpfige Familie Jalili aus dem afghanischen Kazni auf dem inzwischen zugemüllten Bahnsteig neben dem Zug nach Sopron. Einsteigen wollen sie nicht, denn die sechsjährige Tochter würde das Gedränge nicht aushalten, sagt ihre 15-jährige Schwester Nasrin. Der Zug war schon Stunden vor der immer wieder verzögerten Abfahrt voll mit Flüchtlingen.

Auch nach der Öffnung des Bahnhofs kampierten mehr als 1 000 Flüchtlinge wie schon an den Tagen zuvor neben dem Gebäude und im geräumigen Zwischengeschoss, das zur U-Bahn führt. „Warum bloß machen sie das mit den Leuten?“, sagte eine junge Ungarin, die neben den Bahngleisen Kaffee und Brötchen verkauft. Ihr Geschäft sei wegen des Flüchtlingschaos am Bahnhof eingebrochen. Aber nicht das bewegt sie jetzt: „Ich bin einfach nur entsetzt über all dies Elend.“

Zu gleicher Zeit muss in Brüssel Ungarns Premier Viktor Orban seine Politik verteidigen. Er schiebt die Schuld weiter: „Das ist kein europäisches Problem. Das ist ein deutsches Problem. Die Flüchtlinge wollen nicht nach Ungarn oder nach Estland, sie wollen alle nach Deutschland.“ Dabei bleibt er auch, als ihm Parlamentspräsident Martin Schulz vorrechnet, dass sein Land mit einem europäischen Verteilungsschlüssel weniger Menschen aufnehmen müsste. (dpa)