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Warme Decken und Erbsensuppe

Janet Kühn hilft Obdachlosen, die eisigen Winternächte zu überstehen. Ein Besuch im Laubegaster Nachtcafé.

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© Sven Ellger

Von Sandro Rahrisch

.Dresden Man stelle sich vor, eine Reisegruppe steht vor der Tür, und der Hotelier findet heraus, dass seine Zimmer ausgeräumt wurden. Die Betten sind weg, sogar die Kopfkissen fehlen – ein Albtraum. Janet Kühn kennt es nicht anders. Vor ihren Füßen breitet sich der leere Boden aus, als sie das Licht im Schlafsaal einschaltet. Ihre Gäste liegen nicht in Betten. Sie mögen es nicht einmal besonders warm, wenn sie zu ebener Erde unter ihre Decken kriechen. Sie sind froh, überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben.

In den kalten Winternächten bewirtet Janet Kühn ehrenamtlich Obdachlose im Laubegaster Nachtcafé. Zwischen November und März hängt sie dienstags sechs Stunden an ihre Arbeit als Verkäuferin dran und hilft bis Mitternacht denen, die zu erfrieren drohen. „Vielen dürfte gar nicht bewusst sein, dass auch in Dresden Menschen in der Kälte sterben“, sagt sie. Um die 300 freiwillige Helfer sind es insgesamt, die in den sieben Dresdner Nachtcafés mit anpacken.

Jens ist der Erste, der an diesem Abend die Tür zur Christophoruskirche aufdrückt und sich an die Tafel im Gemeinderaum setzt. Sie ist mit Tellern, Tassen und Pfannkuchen eindeckt. Der Mitdreißiger trägt einen sauberen Kapuzenpulli, ist frisch rasiert und passt so gar nicht in das Bild, das viele Menschen von einem Obdachlosen haben dürften. Ja, die mit langen, fettigen Haaren und einer Schlappohrmütze, die nen Einkaufswagen mit vollgestopften Tüten über die Gehwege schieben, gibt es auch, sagt Janet Kühn. Sie wird heute noch vielen von ihnen Erbsensuppe auftun, vielleicht eine Partie „Mensch ärgere dich nicht“ mit ihnen spielen und ihnen Decken und Isomatten in die Hände drücken. Doch sie habe beobachtet, dass besonders die Jüngeren auf ihr Äußeres achteten. Je länger sie dann auf der Straße lebten, umso mehr ließen sie sich gehen.

Begängnis vor dem Gemeinderaum. Ein Mann, vielleicht 50, und sein Neffe trappeln über den Flur. Sie drücken den Helfern einen Euro für die Übernachtung in die Hand und verschwinden über die Treppe in den Keller, wo sich der Schlafsaal befindet. Der Ältere murmelt vor sich hin, er ist nicht zu verstehen. Schwierig sei der Umgang mit Obdachlosen nicht, sagt die 46-Jährige. So abgeklärt es auch klingen mag. Aber ab einem gewissen Pegel seien viele Alkoholiker zugänglich. Und viele Gäste seien alkoholkrank. Sie kämen teils mit offenen Wunden ins Nachtcafé, nur weil sie Krankenhäuser um alles in der Welt meiden. „Im Krankenhaus kommen sie nicht an Bier und Schnaps heran.“ Alkohol und Drogen sind auch im Nachtcafé verboten. „Wer was mitbringt, dem nehmen wir es ab und geben es früh wieder.“

Scheidung, Kündigung, der Verlust eines geliebten Menschen: Oft ist die Trinkerei eine Folge dessen, dass etwas im Leben schieflief. Und sie ist die Ursache dafür, dass noch mehr schiefläuft. Freunde ziehen sich zurück und der Job geht verloren, Geld beim Amt zu beantragen, wird zum unüberwindbaren Hindernis. Kühn kennt diese Geschichten. Früher oder später kämen die Besucher zu ihr und erzählten sie. Sie hört zu.

Die Jüngeren dröhnten sich dagegen mit Cannabis zu, auch aus Liebeskummer. Das Geld geht für den Kick drauf. Irgendwann sitzen sie auf der Straße. Erst letzte Woche hat ein 19-Jähriger angeklopft und einen Schlafplatz gesucht. 18 Jahre alt müssen sie sein, um hereingelassen zu werden.

Die Übernachtungsgäste wärmen sich mit Kaffee auf. Zehn sind es inzwischen. Höchstens 20 werden aufgenommen. Janet Kühn muss in die Küche. Dort bereitet sie mit zwei weiteren Helferinnen das Abendbrot vor. Sie schneidet Gemüsepaprika in schmale Streifen, legt Bockwürste ins heiße Wasser und stapelt die mit Salami, Bierwurst und Gouda belegten Brötchen auf Alu-Servierplatten. Kantinen und Hotels spendieren das, was am Tag übrigbleibt. Zwei Bäcker steuern Brot und Brötchen bei, ein Gemüsehändler das Grünzeug. „Es ist auch schon passiert, dass wir über Weihnachten nichts bekamen, weil die Kantinen geschlossen hatten. Dann kochen wir selbst, Nudeln mit Tomatensoße etwa.“

Inzwischen hilft Janet Kühn seit vier Jahren, Menschen vorm Kältetod zu bewahren. Die Zeit im Nachtcafé sei für die Besucher wie Urlaub. Erholung von der Straße, der Kälte und der Nässe. „Die sind den ganzen Tag unterwegs und fertig.“ Selbstverständlich sei das Engagement für die Gäste nicht, glaubt sie. „Wir hören oft ein Danke.“ Zur Weihnachtsfeier hätten die Helfer eine Liste ausgelegt. Jeder Obdachlose sollte einen Wunsch eintragen. „Macht weiter so, haben sie geschrieben. Das hat mich sehr gefreut.“ Aus welchen Gründen sich die vielen Helfer engagieren, weiß sie nicht. „Ich bin Christ. Ich sage mir, dass es niemand verdient hat, auf der Straße zu leben. Ich würde auch nie behaupten, dass mir das nicht passieren könnte.“ Ihre Mutter hilft seit 23 Jahren in einem Nachtcafé. Irgendwann sei Janet Kühn mal mitgegangen und habe gesehen, wie so eine Nacht abläuft. Jetzt, da die Kinder groß genug sind, sei auch Zeit fürs Ehrenamt da.

Nach dem Abendbrot zieht es vielen die Augen zu. „Wach bleibt keiner“, sagt Kühn. Bis elf kehre Ruhe ein. Der eine oder andere legt sich in den Flur, wenn im Schlafsaal wieder jemand schnarcht. Um Mitternacht wird die Dresdnerin von der Nachtwache abgelöst. Die Kollegen sind bis sechs Uhr früh dran. Sie decken fürs Frühstück ein, waschen die Wäsche der Gäste und werfen sie in den Trockner. „Nur zusammenlegen müssen sie ihre Sachen selbst.“

Am Heiligabend werden die Nachtcafés voll sein, ist sich die Helferin sicher. An den Feiertagen könnten sich die Obdachlosen nicht in den Einkaufszentren aufwärmen. Dann sind sie für den Kellerboden der Christophoruskirche dankbar.