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Walzertraum auf buntem Glas

Auf der Salomonstraße war der „Thüringer Hof“ über hundert Jahre lang beliebt. Heute sucht man das Lokal vergeblich.

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© Fotos: Ressel/Sammlung Schermann

Von Ralph Schermann

Nach dem Ersten Weltkrieg war das alte Weltbild zusammengebrochen. Neue Staatsgebilde entstanden, so auch die Tschechoslowakische Republik. Die dort lebenden Deutschen wurden tschechische Bürger. Das Geld verlor an Wert, und die Entwertung steigerte sich bis 1923 zu einer heute unvorstellbaren Inflation. Aber immerhin: Tschechische Kronen hatten in Deutschland damals einen höheren Wert. Und so fassten auch Else und Karl Ressel, beraten vom Großvater Lange im böhmischen Raspenau, den Entschluss, ins Deutsche Reich überzusiedeln. Sie hofften, mit der ausländischen Währung günstigere Bedingungen zu erreichen.

Die Ressels entschieden sich 1922 für einen Wohnsitz in Görlitz und hier zum Kauf des Grundstücks Salomonstraße 34. Das war 1856 gebaut worden und beherbergte das Restaurant „Thüringer Hof“. Dieses Lokal wiederum stand seit 1919 zum Verkauf, und auch vorher hatten die Besitzer des zunächst unscheinbaren Bierlokals oft gewechselt. Das Lokal ist dabei eines der ältesten Häuser auf dieser Straße. Früher befand sich auf dem Grundstück ein mittelalterlicher Brunnen, dessen Wasser über hölzerne Rohre bis in die Altstadt geführt wurde. Die Salomonstraße hieß im 14. Jahrhundert Salmannsgasse, benannt nach der reichen Familie Salmann. Der Chronik zufolge entsprang das Salomonswasser an der Stelle, an der sich die beiden Wege der früheren Biesnitzer Gasse einst vereinigten. Damit könnte auch die Quelle im jetzigen Grundstück Salomonstraße 36 (Ecke Dresdener Straße, vormals Fleischerei Würfel), gemeint sein. Dort standen wohl auch die Häuser des frühmittelalterlichen Salmansdorfes. Vor 1850 führte die Salomongasse als einzige befestigte Straße zu den südwestlichen Dörfern. Salmansdorf wurde um 1385 erstmals erwähnt.

Die Bausubstanz des neues Ressel-Besitzes schien zwar stabil, war aber fast hoffnungslos verkommen. Eine ähnliche Bewertung gab Karl Ressel über die Stammgäste ab. Die waren es gewohnt, einfach hinter die Theke zu laufen und von dort in die Küche, um den Ausguss als Pissoir zu benutzen. Es bedeutete einige Überredungskunst, den Männern den rechten Weg zu weisen und das Lokal schrittweise für mehr Anstand besitzende Besucher attraktiv zu machen. tatsächlich änderten sich mit der Zeit auch die Sitten. Mehrere Kredite wurden aufgenommen, und Familie Ressel begann die Erneuerung des Lokals nach eigenen Ideen. Die hygienischen und gastronomischen Verhältnisse wurden gründlich umgestaltet. Jeden verdienten Pfennig steckte der neue Gastronom, der sich zuvor übrigens als Kunstmaler durchs Leben geschlagen hatte, in sein Lokal. Ein Vereinssaal wurde angebaut, denn für die zunehmende Zahl der Veranstaltungen reichte der Raum im Vordergebäude nicht mehr aus. Karl Ressel ließ einen Tanzsaal entstehen, indem er die „einzige Görlitzer Glastanzdiele“ schuf. Die fast fünf Zentimeter dicken Glasplatten bemalte er als erfahrener Kunstgewerbler selbst. Unter jeder Platte ließ er eine Glühbirne installieren. Über eine sinnreiche Schaltung konnten die einzelnen Ornamente dann fantasievoll und farblich wechselnd beleuchtet werden, eine Art Vorläufer später bei Diskotheken beliebter Lichtorgeln. Es war sicher ein reizvolles Bild, wenn die Tanzpaare im fast abgedunkelten Saal über dem Glasboden im Walzer-, Tango- oder flotten Foxtrottschritt gleichsam wie auf einem farbigen Teppich schwebten. Trotz heftiger Konkurrenz vom „Konzerthaus“ auf der nahen Leipziger Straße erfreuten sich die Tanzabende im „Thüringer Hof“ deshalb immer größerer Beliebtheit. Ein großes Plakat auf der Straße, angestrahlt von einer sich über die gesamte Fassadenfront hinziehenden Glühbirnen-Kaskade, warb für junges und reiferes Publikum gleichermaßen: „Heute wieder großer Gesellschaftstanz auf der einzigen Görlitzer Glastanzdiele.“

Die friedliche Zeit wurde 1939 unterbrochen. Hitler entfesselte einen neuen, schlimmen Krieg. Auch der „Thüringer Hof“ bekam seine Kriegserlebnisse. Ausländische Zwangsarbeiterinnen halfen aus, unter der Glastanzdiele wurden 1945 erfolgreich Lebensmittelbüchsen versteckt. Der alte Brunnen leistete in der Zeit des Zusammenbruchs der Wasserversorgung wieder gute Dienste. Die Wirtsleute setzten sich zur Ruhe, das Ehepaar Gottschalt übernahm das Lokal, dann wurde es eine Gaststätte der Konsumgenossenschaft und deren Stammlokal für Mitgliederveranstaltungen. Die Glastanzdiele blieb lange Zeit eine Attraktion ebenso wie die Doppelkegelbahn im Keller.

Heute bietet die Salomonstraße wieder einen weniger schönen Anblick. Erneut warten viele Häuser auf Sanierung. Der „Thüringer Hof“ ist seit Jahren Geschichte, ebenso ein Lokal namens „Asia-Haus“, das nach der Wende eingezogen war. Auf dem bunten Glas tanzt niemand mehr.