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Waldheimer Sänger bleibt stumm

Der Angeklagte stand wegen gefährlicher Körperverletzung vor Gericht. Auch dort fiel er wieder aus der Rolle.

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© Harry Haertel

Von Tina Soltysiak

Chemnitz/Waldheim. Mit einer eigenwilligen Kopfbedeckung Marke Eigenbau ist der sogenannte Sänger von Waldheim am Montag überpünktlich vorm Chemnitzer Landgericht erschienen. Sein Markenzeichen, die Gitarre, fehlte.

Der 41-jährige Deutsche musste sich in drei Fällen unter anderem wegen gefährlicher Körperverletzung und Beleidigung verantworten. Zu den Vorwürfen äußerte er sich nicht. „Er hat mir schriftlich mitgeteilt, dass er seit einer Woche nicht mehr redet“, sagte sein Verteidiger, Rechtsanwalt Carsten Forberger aus Döbeln. Sie kommunizierten via Zettel und Stift miteinander. Um seinen Emotionen Ausdruck zu verleihen, reckte der Angeklagte selbst gebastelte Schilder mit Emojis in die Höhe: Besonders häufig kam das Gesicht mit der langen Lügennase zum Einsatz.

Zwei Männern soll der Beschuldigte Ende 2015, Anfang 2016 mit seinem Musikinstrument auf den Kopf geschlagen haben. Einer Frau soll er einen so heftigen Schlag gegen den Hals versetzt haben, dass sie stürzte und sich Prellungen sowie eine Gehirnerschütterung zuzog.

Stundenlanges Herumkrakeelen

Nicht nur in Waldheim ist der Angeklagte bekannt. Sein Revier war die Zschopaubrücke. Dort hielt er sich auf, klimperte auf seiner Gitarre herum, krakeelte lautstark, rief einigen Passanten Beleidigungen oder wirre Worte hinterher. „Weihnachten 2015 ist es mir am zweiten Feiertag zu viel geworden. Er hatte am 24. und 25. schon stundenlang Lärm gemacht. Am 26. bin ich zu ihm runter gegangen, um ihn aufzufordern, aufzuhören. Er schlug mir unvermittelt mit der Faust gegen die linke Schulter. Ich taumelte in Richtung Straße, hatte Glück, dass kein Auto kam“, schilderte einer der Geschädigten. Bei dem Hieb sei es nicht geblieben. „Er schlug mir die Gitarre noch zweimal auf den Hinterkopf“, sagte der 55-Jährige.

Ähnlich erging es einem Zollbeamten. „Er hat mir oft li-la-lucky-lei vom FBI hinterhergerufen, mich verfolgt und verbal beleidigt“, erzählte der Waldheimer im Zeugenstand. Bei einer Auseinandersetzung bekam auch er das Holzschlaginstrument über den Kopf gezogen. Der 44-Jährige erlitt ein leichtes Schädeltrauma und Schürfwunden.

Dass sich die drei Taten genauso zugetragen haben, daran hat das Schöffengericht unter dem vorsitzenden Richter Kay-Uwe Sander keinen Zweifel. Dennoch wurde der Angeklagte freigesprochen. Die 6. Große Strafkammer hatte nämlich auch darüber zu entscheiden, ob der Angeklagte schuldfähig und eine Unterbringung im Maßregelvollzug erforderlich ist. „Beide Fragen beantwortet das Gericht nach den Ausführungen der Gutachterin mit einem Nein“, so Sander.

Dr. Kerstin Buchholz, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie in Arnsdorf, hatte den Angeklagten ambulant in der JVA Zwickau untersuchen können. Dort musste er von April bis Juli dieses Jahres Sitzungshaft ableisten, weil er wiederholt unentschuldigt nicht zu Verhandlungen im Amtsgericht Döbeln erschienen war. „Er war bewusstseinsklar, verhielt sich aber affektiv, emotional vollkommen aufgelockert und der Situation nicht angemessen – genauso wie er es heute hier in der Verhandlung tut“, so Buchholz. Während sie oder auch die Zeugen sprachen, wirbelte der Angeklagte seinen Plüschteddy durch die Luft, busselte ihn, strich ihm beruhigend über den Kopf, leckte fast schon lasziv an einem Lolli, hielt sich die Ohren zu oder gab prustende Laute von sich und zog eine gelangeweilte Miene.

Verschiedene Realitäten

„Der Angeklagte hat erhebliche kognitive Defizite. Er hat sich ein Wahnsystem aufgebaut. Entscheidungsgrundlagen für sein Verhalten sind in seinem Wahn zu sehen, nicht in der Realität“, sagte die Medizinerin. Sie diagnostizierte ihm eine Psychose. „Das ist eine krankhafte seelische Störung“, sagte Kerstin Buchholz.

Das Landgericht hatte darüber zu entscheiden, ob für den Mann die Unterbringung in einem Maßregelvollzug infrage gekommen wäre. Die Medizinerin hielt das für nicht sinnvoll. Sie empfahl stattdessen, für ihn eine Form der Betreuung zu finden. Wichtig sei, dass der Angeklagte einen geregelten, strukturierten Tagesablauf bekomme. „Er scheint ja handwerklich sehr geschickt zu sein. Vielleicht findet sich ja eine Beschäftigung für ihn“, sagte sie. Der 41-Jährige lächelte, notierte eifrig etwas. Sein Verteidiger las vor: „Ich möchte richtig Gitarre spielen lernen.“

Sowohl die Verteidigung als auch die Staatsanwaltschaft plädierten unter Verweis auf das medizinische Gutachten auf Freispruch. Aufgrund der Erkrankung hielt auch das Schöffengericht einen Freispruch für vertretbar, obwohl der Angeklagte bereits mehrfach vorbestraft ist – unter anderem wegen eines bewaffneten Banküberfalls. Er verbüßte dafür eine mehrjährige Haftstrafe. Die Kosten für den Prozess am Montag trägt der Staat.