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Von wegen dumme Gans

Das Federvieh ist Weihnachten als Festtagsbraten begehrt. Mit den Tieren kann man aber auch allerhand erleben.

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© Michael Domanja

Von Michael Domanja

Weihnachten und Gänsebraten – das gehört irgendwie zusammen. Seit Urzeiten wurden schon Gänse gehalten. Sie gehören zu den ältesten Haustierarten. Und sind immer etwas Besonderes gewesen. Im alten Ägypten soll der erste Gott aus dem „Ei des Schnatterns“ entstanden sein. Im Mittelalter galten Gänse als Zahlungsmittel. Auch die Steuereintreiber bedienten sich an den Tieren. Aus den Aufzeichnungen des Klosters Marienstern ist bekannt, dass bis zum Jahr 1832 alle Gänsehalter im Einzugsbereich des Klosters jede vierte Gans zu Martini an das Kloster abliefern mussten.

Bis noch vor etwa 50 Jahren war das Federkleid der Gänse – für die Betten – aber bedeutsamer als der Braten. Federn fielen natürlich beim Schlachten an. Sie wurden den Tieren jedoch auch zu Lebzeiten in vorgegebenen Abständen ausgerupft. Für die Gänse eine sehr schmerzhafte Prozedur.

Ein Federbett als Aussteuer

Im Winter, an den langen Abenden, waren neben der ganzen Familie mit den Kindern auch die Frauen des Dorfes dabei, um die Federn zu schleißen, das heißt, die für die Betten gebrauchte Fahne und den Flaum von den beiden Seiten des Kiels zu trennen. Um den immensen Aufwand zu verdeutlichen: Für ein Bett mit Kopfkissen wurden vier Kilogramm geschlissene oder fünf Kilogramm ungeschlissene Federn benötigt. Eine Gänsefeder wiegt 0,02 Gramm. Somit brauchte es ungefähr 200 000 Federn (oder 400 000 Arbeitsgänge, um Kiel von Federn und Flaum zu trennen). Als Aussteuer oder Mitgabe bei der Hochzeit für ein Kind waren vier oder fünf Betten notwendig. Und es gab Familien mit vielen Kindern!

Hirten gab es früher übrigens nicht nur für Schafherden, sondern auch für Gänse. Sie zogen mit dem Federvieh durch Flure und Dörfer. In Cunnewitz kam vor etwa 200 Jahren im zeitigen Herbst eine ganze Herde mit zehn Junggänsen und alten Tieren nicht mehr vom Weidegang zu ihrem Besitzer zurück. Ein Gänsehirte hatte mit seiner Herde die Gänse des Bauern mitgehen lassen … Aber sie kehrten wieder heim: Zum Fest des Heiligen Martin trieb derselbe Hirte seine große Gänseherde wieder durch Cunnewitz – zu seinem Verhängnis. Denn die zunächst „mitgegangenen“ Gänse brachen aus der großen Herde aus und steuerten zielsicher ihren alten Hof an.

Federn sind heute Abfall

In der heutigen Zeit werden die Gänse vorwiegend in großen Anlagen aufgezogen, gehalten und gemästet. In den Aufzuchtbetrieben legen die Legegänse bis zu 60 Eier im Jahr. Sie werden in Brutkästen ausgebrütet und die Gössel an die Mastbetriebe ausgeliefert. Die Federn werden als Abfall entsorgt.

Wussten Sie, dass Gänse in China als Symbol ehelicher Treue gelten? Vielleicht, weil der Gänserich oder Ganter auf den Höfen in der Regel einen „Harem“ von drei bis zu fünf Gänsen hatte. Seine Aufgabe war es, die Gruppe zusammenzuhalten und vor allem sich darum zu kümmern, dass aus jedem gelegten Ei ein Gössel schlüpfen konnte. Die vielen Gänse – und jeden zweiten Tag ein Ei: richtig Arbeit für den Gänsemann! So ein Gänserich kann ganz energisch sein und beim (vermeintlichen) Gegner Blessuren hinterlassen. Warum? Um seinen „Harem“ nicht nur vor Nebenbuhlern, sondern vor allem anderen, was sich auf dem Hofe bewegte, zu schützen. Das wurde nicht selten für die Postfrau, für die Nachbarin, ja selbst ein Kind der Familie zum Problem. Der Ganter konnte sogar die Rolle des Haushundes mit mächtigem Geschrei, kräftigem Flügelschlagen und Beißen übernehmen.

Gänse bleiben ein Leben lang zusammen

Eine Zuchtgänseherde konnte auch auf ein beträchtliches Alter bis zu sieben, ja mitunter bis über fünfzehn Jahre zurückschauen. So eine alte Gans als Weihnachtsgans verkauft und geschlachtet war dann – auch mehrere Stunden in der Pfanne zubereitet – zum Problem und nicht zum Braten geworden.

Zuchtgänse bleiben ein Leben lang zusammen. Die „Hochzeit“ findet im September, lange vor der eigentlichen Paarung, statt. Geht ein Partner verloren, bleibt der andere Witwer. Ein fremder Partner wird im „Harem“ schwerlich anerkannt.

Ein Blick in die Geschichte: Auf unserem Hof hatte der Gänserich vier Gänse. Er betreute sie gewissenhaft. Die Gänse hatten in jenem Jahr ihre Eier gelegt und begannen mit dem Brüten. Daran beteiligte sich der Gänserich nicht und hatte Zeit für dumme Gedanken. Einmal war auf dem Dorfplatz eine fremde und scheinbar interessante Gans. Sie hatte keinen Partner. Fortan ging der Ganter fremd. Er bekam dafür „Hausarrest“ – und das half gar nichts. Als das Tor wieder einmal offen stand, war er wieder bei der neuen Freundin. Das ging eine Weile weiter, bis eines Tages der Nachbar den Gänserich von einem Auto überfahren als „Verkehrstoten“ zurückbrachte. Die Zeit dieses „Harems“ war so vorbei.

Mit den Jungen auf den Dorfplatz

Aus den bis zu zwölf Eiern der Zucht- oder Hausgänse schlüpften die goldenen Gössel. Diese waren in den ersten Lebenstagen auf eine besondere Pflege angewiesen. Es durfte nicht kalt sein und extra Futter – besonders die jungen geschnittenen Brennnesselpflanzen – waren dafür notwendig. Nach der ersten Lebenswoche, die Sonne meinte es schon gut, zog die alte Gans mit ihren Kleinen dorthin, wo es etwas Grünes gab, nämlich auf den Dorfplatz. Die Kleinen wuchsen auf – bis sie zu Weihnachten als Festmahl auf dem Tisch landeten …

Gewöhnlich gab es im Sommer noch eine zweite Brutzeit. Eine Zuchtgans brachte es damit bis auf zwanzig Nachkommen.

In den Dörfern der Lausitz sind vereinzelt noch kleine Gänsehalter zu finden, aber ohne eigene Aufzucht. Für sie ist es ein zusätzliches Nebeneinkommen, an Weihnachten Gänsebraten anzubieten. Freilich sind es vor allem große Zucht- und Mastbetriebe, die heutzutage Gänse für das Weihnachtsgeschäft halten.

Unser Autor Michael Domanja ist Seniorchef des Bauern- und Gemüsehofes Domanja in Hoske bei Wittichenau.