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Von unbekannt zu verwandt

Zwei Britinnen auf Ahnenforschung entdeckten mithilfe der SZ ihre deutschen Wurzeln in Meißen.

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© Claudia Hübschmann

Von Dominique Bielmeier

Meißen. Manchmal findet man im Leben mehr als man gesucht hat. „Weißt du noch, als wir oben bei der Burg standen und gesagt haben, hier irgendwo könnte sie sein?“, fragt Christina Allen und ahmt die Armbewegung von ihrem Besuch Mitte September nach – ein weit ausgreifender Schwung über die ihr zu Füßen liegende Stadt. „Wir hatten ja keine Ahnung.“

58Jahre liegen zwischen dem Schwarz-Weiß-Foto und den Bildern vom ersten Kennenlernen in Meißen. Doch weder die Zeit noch die Sprachbarriere können die Verwandten aus zwei Ländern nun wieder trennen.
58Jahre liegen zwischen dem Schwarz-Weiß-Foto und den Bildern vom ersten Kennenlernen in Meißen. Doch weder die Zeit noch die Sprachbarriere können die Verwandten aus zwei Ländern nun wieder trennen. © Claudia Hübschmann

Die Waliserin ringt um Fassung und das hat einen guten Grund: Neben ihr und ihrer Schwester Heather Dicker, die damals mit in Meißen war, sitzt Giselott Fuchs, Hobbykünstlerin, Meißnerin und wie sich herausgestellt hat: Großcousine von Christina Allen und Heather Dicker.

Als die beiden Britinnen Mitte September zum ersten Mal für ein paar Tage nach Dresden und Meißen kamen, hätten sie sich nicht vorstellen können, so bald schon wieder zurückzukehren. Mit dicken Ordnern voller Urkunden, Briefen und alten, vergilbten Fotos waren sie damals angereist, um mehr über die deutsche Vergangenheit ihres Vaters zu erfahren.

Joachim Karl Heinz Schmieder, geborener Dresdner, emigrierte nach dem Zweiten Weltkrieg nach England, wo er heiratete und zwei Töchter bekam. Sein Einsatz bei der Wehrmacht hatte ihn so traumatisiert, dass er kaum über seine Herkunft sprach. Die weißen Flecken in der Familiengeschichte wollten seine Töchter nach dem Tod des Vaters beim Besuch in dessen Heimat auffüllen.

„Ich bin die gesuchte Lotte“

Nach Meißen führte sie dabei ein Foto, das im September 1957 hier aufgenommen wurde und ihre Eltern sowie den Großvater mit einer Meißner Familie zeigt. Halb verdeckt in der zweiten Reihe des Fotos: eine junge Frau, die Lotte genannt wird und noch leben könnte.

Für Heather Dicker und Christina Allen steht fest, dass es sich bei den Abgebildeten um gute Freunde handeln muss, da sich die Familien auch Fotos der Kinder zuschickten. Kurz nach Erscheinen eines Artikels darüber in der Sächsischen Zeitung vom 19. September erreicht ein Anruf die Redaktion: „Ich bin die gesuchte Lotte.“ Nicht Lieselotte, wie die Britinnen vermutet hatten, sondern Giselott. Und auch keine Freundin der Familie sondern Familie selbst. Ihr Großvater und der Urgroßvater der Schwestern waren Brüder. Die SZ stellt den Kontakt zwischen den Verwandten diesseits und jenseits des Ärmelkanals her. Zwei Monate nach Erscheinen des Artikels sitzen Christina Allen und Heather Dicker im Flieger Richtung Deutschland.

Der Stammbaum wird erweitert

„Wir hätten keine besseren Verwandten finden können“, sagt Giselott Fuchs, die an einem Freitagabend in ihrem Haus in Meißen sächsischen Wein für den Besuch ausschenkt. Essen und reden, scherzen die Britinnen, mehr haben die Frauen seit dem ersten Treffen einen Tag zuvor nicht getan. Dass sie dieses Mal bei Giselott Fuchs übernachten, versteht sich von selbst.

Und so mischen sich zu den vielen Schwarz-Weiß-Fotos, die Heather Dicker und Christina Allen mitgebracht haben und die über den großen Holztisch verstreut liegen, bald auch Fotos der deutschen Verwandtschaft. Die Ahnenforschung der Britinnen hat die Familie der Meißnerin angesteckt: Die Töchter von Giselott Fuchs haben einen Familien-Stammbaum gefunden und um den britischen Ast ergänzt, Kopien von Geburtsurkunden werden als Geschenke überreicht; die Enkeltochter hilft beim Übersetzen zwischen Deutsch und Englisch, auch wenn die Sprachbarriere trotz mancher kleiner Missverständnisse kaum eine Rolle spielt.

Auch die Britinnen haben ein Geschenk im Gepäck: ein Fotobuch mit Bildern der Familie Schmieder in England – die Schwestern in schicker Kleidung auf Hochzeiten, ihre Kinder bei Kletterausflügen in schwindelerregender Höhe. In nur drei Tagen hat sie das Album erstellt, erzählt Christina Allen und streicht sich scherzend mit dem Handrücken über die Stirn. Bis zum Treffen sollte es unbedingt fertig sein.

Ein Foto fehlt jedoch. Entstanden ist es erst beim zweiten Besuch in Meißen. Darauf steht Giselott Fuchs zwischen Heather Dicker und Christina Allen auf den Stufen vor ihrem Wohnhaus in Meißen – dort, wo vor 58 Jahren das Foto aufgenommen wurde, mit dem alles begann. Im kommenden Jahr dürften noch ein paar Motive dazukommen: Dann wollen die Britinnen ihre Meißner Verwandtschaft auf jeden Fall wieder besuchen.