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Von Lipsi bis Pegida

Die SZ lädt zu einer Zeitreise durch Leserbriefe ein.

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© Daniel Förster

Von Thomas Morgenroth

Sie säen nicht, sie ernten nicht, von wem werden sie ernährt?“, fragt eine Dresdnerin am 17. April 1946 in der Sächsischen Zeitung. Sie meint „die Leute, die von früh bis mittags, von nachmittags bis abends in zweitrangigen Lokalen und Tanzkabaretts rauchend, kartenspielend und Greuelmärchen erzählend beisammen sitzen.“ In ihrer Empörung bezeichnet die Leserin die Müßiggänger als „halbflügge Tangojünglinge mit dauergewellten Künstlermähnen“ und „wasserstoffsuperoxydgefärbte Luxusweibchen“. Sie selbst sei Arbeiterin und könne sich Bummelei nicht leisten.

Es ist einer der ersten Leserbriefe, die je in der Sächsischen Zeitung abgedruckt wurden. Was damals bitterer Ernst war, sorgte im ausverkauften Tom-Pauls-Theater in Pirna für große Heiterkeit. Vorgelesen von der Dresdner Schauspielerin Beate Laaß, bekommt der Text einen kabarettistischen Charakter. Die Menschen reagierten damals auf aktuelle Zustände, die heute Vergangenheit sind.

Komisch erst recht, wenn die manchmal sogar gereimten Zeilen von Könnern ihres Fachs wie Beate Laaß und Tom Pauls vorgetragen werden. So wird die Zeitreise durch sieben Jahrzehnte Leserbriefe, zu der die Sächsische Zeitung eingeladen hat, zu einem überaus unterhaltsamen Abend. Moderator Peter Ufer ordnet die ausgewählten rund 70 Briefe mit kurzen Erklärungen in die jeweilige gesellschaftliche Situation ein. Er spannt den thematischen Bogen von Hellseherei, fehlenden Haarnadeln und Abschaffung der Todesstrafe über Mauerbau, westliche Dekadenz und Wiedervereinigung bis hin zu Putin und Lügenpresse.

Das Duo 2Hot mit Christian Schöbel am Flügel und Mario Meusel am Schlagzeug jazzt dazu mit populärer Musik jener Zeit. Mit dem Kampflied „Bau auf, bau auf“ zum Beispiel oder einem Lipsi, dem 1959 in Leipzig erfundenen sozialistischen Tanz im 6/4-Takt, der sich nie durchsetzte. Wie der getanzt wird, führen Tom Pauls, im Lipsi-Jahr in Leipzig geboren, und Beate Laaß vor, dazu den passenden Schlager von Helga Brauer singend. Ein köstliches Duo.

Je länger der Sozialismus dauert, umso fleißiger schreiben die Leser. Kommen 1963 27 000 Leserbriefe in der Redaktion an, sind es 1964 schon 60 000. Mitte der Siebzigerjahre hat sich diese Zahl gar verdoppelt. „Nur ein Bruchteil der Zuschriften allerdings wird tatsächlich veröffentlicht“, sagt Peter Ufer. Und: „Es gibt eine deutliche Differenz zwischen der eingesandten und der veröffentlichten Meinung.“

Alle Briefe, die während der Veranstaltung vorgetragen werden, wurden tatsächlich veröffentlicht, betont Peter Ufer. Er hat diese gemeinsam mit Beate Laaß aus mehr als 7 000 Leserbriefen ausgesucht, die ihnen Ute Essegern und Kristina Grunwald vom SZ-Archiv zur Verfügung stellten.

„Gebrieft und erlesen!“, am 9. Oktober, 11 Uhr, im Burgtheater Bautzen, und am 16. Oktober, 18 Uhr, im Stadtkulturhaus Freital. Tickets gibt es in allen SZ-Treffpunkten.