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Von Eisen, Karbon und Herzblut

Der Speerwerfer Thomas Röhler und die 100 Meter. Der Olympiasieger ist erst 25, da geht noch was – sagen die Experten.

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Von Ralf Jarkowski

Diese Hände, die sonst 180 Kilo Eisen mit Urgewalt in die Höhe stoßen, die können auch ganz zärtlich sein. Behutsam, vorsichtig, fast schon liebevoll umfasst Thomas Röhler den Speer, der in der Grasnarbe steckt und im Sonnenlicht funkelt. Er dreht ihn hin und her, zweimal, dreimal. Ganz langsam windet er ihn aus dem Rasen. „Das ist der Trick, so bleibt er sauber“, sagt der junge Mann, grinst und erklärt: „Wenn man ihn einfach mit einem Ruck rauszieht, dann bleibt immer Erde dran kleben.“ Röhler ist weder Zeugwart noch Gärtner: Er ist Olympiasieger und der zweitbeste Speerwerfer der Welt.

Kleines Gewicht, große Wirkung. Im Kraftraum wuchtet Thomas Röhler die Hantelstange in die Luft.
Kleines Gewicht, große Wirkung. Im Kraftraum wuchtet Thomas Röhler die Hantelstange in die Luft. © dpa
Der Armzug des 25-Jährigen ist exzellent, sagt sein Trainer Harro Schwuchow.
Der Armzug des 25-Jährigen ist exzellent, sagt sein Trainer Harro Schwuchow. © dpa

Sein Trainer Harro Schwuchow schaut lächelnd zu. Das Ritual kennt der erfahrene Übungsleiter, er hat es schon tausendmal erlebt. Röhler ist in Jena geboren, deshalb darf er sich auch Jenenser nennen, klärt der 25-Jährige die Zugereisten gern auf. Der Trainer kommt auch aus Thüringen, aber nicht aus der Zeiss-Stadt – er ist also ein Jenaer. Auf der malerischen Oberaue der Saale trainiert das Erfolgsduo im Sommer fast täglich. Die beiden arbeiten jetzt vier Jahre zusammen und sagen Thomas und Harro zueinander. Man könnte fast glauben: Hier kommen Vater und Sohn, eine verschworene Gemeinschaft.

Trainers Rache ist Blutwurscht

Zu ernst nehmen sie ihren Job aber nicht. Lockerheit ist Trumpf, man scherzt miteinander, trifft sich bei Grillpartys, vor dem Training wird auch gerne mal Tischtennis gespielt. Gegen Röhlers Rückhand ist Schwuchow machtlos, ganz selten kann er punkten. „Rache ist Blutwurscht“, sagt er dann und freut sich.

Aus dem leicht angestaubten Radio in der Trainingshalle singen die „Toten Hosen“ von der Freiheit unter den Wolken. Auf der Bank liegt ein Aufnahmeantrag für die Leichtathletik-Abteilung des LC Jena. Schüler bis elf Jahre zahlen monatlich 9,50 Euro – ein gut angelegtes Taschengeld für künftige Olympiasieger.

Neben dem schwarzen Brett klebt schon das Plakat für die deutschen Meisterschaften in Erfurt Anfang Juli. Mit Röhler als Coverboy, wer sonst!? Der Thüringer wird in der Landeshauptstadt der Publikumsliebling sein, und der sechste Titel hintereinander ist dort das Ziel. An Röhler kommt derzeit, so scheint es, keiner vorbei, in Deutschland gleich gar nicht. Dienstagabend im finnischen Turku hat Röhler mal wieder gewonnen, diesmal mit einem Wurf auf gut 88 Meter.

Der Goldjunge von Rio holt seine Wettkampfspeere aus dem Auto, die sind ihm heilig. Nicht mal in der Trainingshalle würde er sie über Nacht lassen. „Die sind aus Karbon, einer kostet 1 400 Euro“, erklärt er. Die Arbeitsgeräte balanciert er locker auf einer Schulter, viermal 800 Gramm sind kein Akt für Röhler, beim Krafttraining hat er jetzt 90 Kilo auflegen lassen. Mit urwüchsiger Kraft stößt er die Hantel nach oben, die Eisenscheiben nähern sich bedrohlich der fast drei Meter hohen Hallendecke. Röhler ist 1,92 Meter groß.

Fokussiertes Grinsen ist erlaubt

„Sonst liegen da 180 Kilo drauf. Und dann gibt es 26 Wiederholungen“, verrät Schwu-chow. „Aber in der Wettkampfphase lassen wir es ruhiger angehen.“ Ruhiger? Dafür schwitzt Röhler ganz schön, unter dem dünnen Trikot zeichnen sich die Muskeln ab. Doch er hat Spaß bei der Arbeit. „Ein fokussiertes Grinsen ist schon okay“, sagt er.

Petra Felke schaut in der Halle vorbei, die zupackende Frau war auch mal eine Jenaer Speerwurf-Größe. „Hallo Thomas“, ruft die Olympiasiegerin von 1988 – im gleichen Jahr flog ihr Speer 80 Meter weit. Nach dem Weltrekord wurde auch bei den Frauen ein neuer Speer eingeführt, wie schon nach Uwe Hohns Jahrhundert-Wurf auf 104,80 Meter.

„Der Thomas ist ein großes Naturtalent“, meint Felke, „aber auch ein großes Vorbild. Er lässt sich beim Training nie hängen.“ Was ihn so besonders macht? „Er hat eine wahnsinnige Schnellkraft und diese Dynamik in den Beinen.“ Aber das allein reicht nicht, das weiß die 57-Jährige aus Erfahrung. „Du musst deinen Sport schon lieben“, sagt Felke, „und du musst ein bisschen verrückt sein.“

Das ist Röhler irgendwie auch, aber vor allem ist er Perfektionist, Realist und ein Kämpfer. „Nicht jammern, sondern machen.“ Dieses Motto gilt für ihn im Sport und im Leben, an der Uni Jena zum Beispiel. Im Restaurant Stilbruch gönnt sich Röhler in der Mittagspause zwischen zwei Trainingseinheiten eine Penne Professore – ganz stilecht, der Mann studiert schließlich. Der Bachelor of Science and Economics hat was im Kopf und macht sich so seine Gedanken.

Auch über das täglich Brot. „Einen Ernährungsplan brauche ich nicht“, meint Röhler und spießt die Nudeln auf seinem Teller auf. „Dafür habe ich ja Sportwissenschaften studiert.“ Er hat einen „Wohlfühl-Ernährungsplan“ und gönnt sich schon mal was. Nach einer Cross-Fit-Einheit, besser bekannt als Zirkeltraining, „da geht so viel Energie durch den Schornstein“, schildert der Olympiasieger. „Mein Trainer sagt dann: Du musst dich auch mal belohnen – mit Kuchen.“

Als Student der Wirtschaftswissenschaften will er „so viel Wissen wie möglich generieren“, als Sportler ist Röhler dagegen praktisch Einzelunternehmer. Denn „nur der Sport – das ist ein Risiko, da hängt so viel von der Gesundheit ab. Da brauchst du finanziell eine zweite Basis.“ Speerwerfer sind keine Großverdiener der Leichtathletik, aber als Olympiasieger ist Röhler jetzt schon eine große Nummer.

Das würde er aber nie so sagen. Mit seiner Freundin Lucia lebt er in einer Mietwohnung. Die beiden haben sich beim Sport kennengelernt. Viel Zeit für seine Hobbys bleibt Röhler nicht: Angeln, Fotografieren, die zwei Aquarien zu Hause. Als ambitionierter Hobby-Fotograf hat er sich eine gute Kamera zugelegt – und eine Drohne. „Die war sogar im Trainingslager in Südafrika mit.“

Schwuchows Schützling hat im Jahr der Leichtathletik-WM bisher fünf Wettkämpfe bestritten, unter anderem bei seinem Heimspiel: Beim Internationalen Speerwurfmeeting auf der Oberaue ist er Cheforganisator. Und hat natürlich auch selber mitgemacht – und gewonnen mit knapp 84 Metern. Für einen, der Anfang Mai mit 93,90 Meter die zweitgrößte Weite überhaupt seit Einführung des neuen Speers geworfen hat, ist das natürlich nicht der Hit.

Am 12. August will der Olympiasieger in London auch Weltmeister werden. Das Signal an die Konkurrenz ist seit dem Superwurf auf 93,90 Meter gesetzt, immerhin hat er damit in Katars Hauptstadt Doha den 22 Jahre alten deutschen Rekord von Raymond Hecht ausgelöscht. Eine Zwischenstation ist das, mehr nicht. Es bleibt weiter viel zu tun. Doch Röhler ist zufrieden mit diesem schönen, sonnigen Trainingstag in Jena. Und mit sich wohl auch. Da ist es wieder, dieses Gefühl, etwas geschafft zu haben. Und überhaupt: Das satte Grün der weitläufigen Rasenflächen rund um die Trainingshalle tut ihm einfach gut, die Halme sind akkurat gestutzt, man riecht die nahe Saale.

Doch noch ist die Einheit, so sagen die Athleten, nicht vorbei. Schwuchow entgeht nichts, er ist der Experte. Und der Laie wundert sich. „Auf den Stemmfuß drückt unmittelbar beim Abwurf ein Gewicht von einer Tonne“, doziert der 57-Jährige. Dass Röhler mal Dreispringer und Hochspringer war, schadet ihm beim Speerwerfen nicht. Er weiß: „Der Stemmfuß sollte unverwundbar sein.“

Manchmal gehen Athlet und Trainer unten am Fluss angeln, auf Forelle und Hecht und das in der Saale, kaum zu glauben. „Das ist Entspannung pur, und Thomas kennt sich da echt aus“, erzählt Schwuchow und lacht. „Er hat mich zum Hobbyangler gemacht, das entspannt und entschleunigt.“

Gar nicht weit weg ruht das Ernst-Abbe-Sportfeld in der Abendsonne. In dem alten Stadion  spielte einst der FC Carl Zeiss Jena in der Oberliga und im Europapokal, am 1. Juni sind die Kicker in die 3. Liga aufgestiegen. Die Sternstunde der Leichtathletik dauert am 25. Mai 1996 indes nur zehn Sekunden: Anlauf, explosiver Abwurf, der Speer fliegt und fliegt und fliegt. Und landet bei 98,48 Metern. Weltrekord! Der Tscheche Jan Zelezny hält ihn immer noch, und Röhler fehlen nun noch knapp zwei Speerlängen bis dahin.

Der frühere Weltrekordler Uwe Hohn traut seinem Erben sogar die 100 Meter zu. „Wenn Thomas gesund bleibt, ist das ein realistisches Ziel. Er ist ja in einem Alter, in dem man sich noch steigern kann und lernt“, sagt jener Mann, der die Sportwelt am 20. Juli 1984 mit dem ersten und einzigen 100-Meter-Speerwurf der Leichtathletik-Geschichte schockte. Für die unglaublichen „10480“ gab es damals beim Olympischen Tag im Ostberliner Jahn-Sportpark nicht mal eine Anzeigetafel – doch dafür dann ab 1. April 1986 mit der Einführung veränderter Geräte eine neue Rekordliste.

Vergleiche mit dem Weltrekordler

„Thomas ist sehr offen, locker, freundlich, hilfsbereit“, sagt Hohn über Röhler. „Was ich in den letzten Einheiten hier so gesehen habe: tolle Schulter, langer Zug. So etwas hat man in den vergangenen Jahren bei kaum einem Werfer gesehen“, meint Hohn. „Dass er vom Sprung kommt, schadet ihm nicht. Er ist einer der Werfer, die lang am Speer ziehen und ihn beschleunigen. Dazu kommt noch eine relativ hohe Anlaufgeschwindigkeit“, meint er und vergleicht: „Da war nur Zelezny noch schneller und explosiver als Thomas.“

Bei seinem Sieg in Kawasaki hat Röhler im Mai schon mal japanische Luft geschnuppert. Im Land des Lächelns will die Frohnatur 2020 noch einen großen Coup landen. „Dann ist Thomas im besten Alter. Dann greifen wir noch mal an“, sagt Schwuchow – und meint die olympische Goldmedaille in Tokio. „Thomas kann sich in allem noch verbessern“, sagt sein Trainer und schaut ganz beseelt drein. (dpa)