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Von der Kunst, sich ein Iglu zu bauen

Der Buschmüller im Kirnitzschtal schnappt sich eine Kettensäge und probiert es aus. Ein anderer Versuch führt über Grönland und beschert dem Autor besondere Einblicke.

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© Norbert Millauer

Von Hartmut Landgraf

Kirnitzschtal. Hätte ich doch bloß rechtzeitig geahnt, dass uns dieser Haufen Schnee zu Gegnern macht: Vor Stefan Gernerts Buschmühle im Kirnitzschtal sieht’s aus wie in der Arktis. Zentnerweise hat der Gastwirt die weiße Pracht auf seinem Hof zusammengeschoben, in schubladengroße Formen gepresst und die zu Eis gefrorenen Quader dann in einer langen Reihe auf seiner Laderampe zwischengelagert. 70 kristallweiße Blöcke – genug Material für ein ehrgeiziges Projekt: Gernert baut ein Iglu.

Ein Haus aus Eis und Schnee

Ganz ohne Technik geht es nicht Ein bisschen Schneegestöber, und ratzfatz ist der Eingang des Iglus fertig, der Kettensäge sei dank.
Ganz ohne Technik geht es nicht Ein bisschen Schneegestöber, und ratzfatz ist der Eingang des Iglus fertig, der Kettensäge sei dank.
Der Rohbau steht Prüfender Blick ins Innere – noch steht der Rumpf des Iglus wie ein Topf ohne Deckel vorm Schuppen.
Der Rohbau steht Prüfender Blick ins Innere – noch steht der Rumpf des Iglus wie ein Topf ohne Deckel vorm Schuppen.
Dach ist noch undicht Nach oben hin wird’s knifflig – die Dachkonstruktion eines Iglus ähnelt einem Tonnengewölbe.
Dach ist noch undicht Nach oben hin wird’s knifflig – die Dachkonstruktion eines Iglus ähnelt einem Tonnengewölbe.
Alle Fugen sind verputzt Pappschnee ist der beste Putz, den es gibt. Nur noch wenige Handgriffe sind nötig, dann ist das Iglu fertig.
Alle Fugen sind verputzt Pappschnee ist der beste Putz, den es gibt. Nur noch wenige Handgriffe sind nötig, dann ist das Iglu fertig.
Der gemütliche Teil Die beiden Baumeister Andrea und Stefan haben es geschafft! Gemütlich sieht’s aus in ihrem Iglu. Vier Leute hätten drinnen Platz zum Schlafen. Irgendwann in den nächsten Tagen machen die beiden mal den Anfang. Vielleicht aber doch eher mit Glühwein statt Bier …
Der gemütliche Teil Die beiden Baumeister Andrea und Stefan haben es geschafft! Gemütlich sieht’s aus in ihrem Iglu. Vier Leute hätten drinnen Platz zum Schlafen. Irgendwann in den nächsten Tagen machen die beiden mal den Anfang. Vielleicht aber doch eher mit Glühwein statt Bier …

Nicht etwa eine jener stümperhaften Schneeburgen, die man planlos zu einem Haufen zusammenschippt, dann drauf herumtrampelt, bis sie fest sind und sie schließlich aushöhlt wie einen Flaschenkürbis. Sondern ein richtiges Eishaus – Stein auf Stein, mit Wasser statt Mörtel und Pappschnee statt Putz.

Als ich das Werk besichtige, sind die beiden Wirtsleute, der Buschmüller und seine Frau, gerade dabei, die schwierige Dachkuppel zu vollenden. Wie bei einem Tonnengewölbe hält der Schlussstein durch sein Eigengewicht die gesamte Konstruktion in Form. „Pure Physik“, sagt Baumeister Stefan. „Der Petersdom steht ja auch noch.“ Ganz so hoch wird sein Iglu zwar nicht, aber wenn man den Kopf etwas einzieht, kann man aufrecht darin stehen. Die letzten Ecken und Kanten glättet Gernert mit einer Kettensäge. Insgesamt drei Tage Arbeit, 100 Liter Wasser und ein paar Schwielen an den Händen – mehr hat der Spaß nicht gekostet. Und es war wirklich einer! Stefan Gernert wollte einfach wissen, ob er das noch kann: ein Iglu bauen. Sein letzter Versuch liegt 20 Jahre zurück.

Eine ungeplante Wendung

Ich finde das Ergebnis ziemlich professionell: Die Kuppel wirkt stabil, innen haben vier Leute bequem nebeneinander Platz, nirgendwo klafft eine Fuge. Doch der Buschmüller mustert die Konstruktion mit kritischen Blicken. „Ein Eskimo würde sich wahrscheinlich kaputtlachen über das, was ich hier gebaut habe“, sagt er. Wirklich? Um das in Erfahrung zu bringen, müsste man einen fragen.

An dieser Stelle nimmt die Geschichte eine ungeplante Wendung. Was wäre wenn? Irgendetwas in mir nimmt urplötzlich Witterung auf. Ich sehe die Story schon vor mir: Buschmüller gegen Journalisten. Die Winter-Challenge! Er baut sein Iglu fertig und ich versuche jemanden zu finden, der wirklich weiß, wie es geht: einen Eskimo. Ziemlich aussichtslos …

Aber verlockend. Der Gastwirt ist mir weit voraus und im Grunde schon kurz vorm Ziel. Nur ein Windfang vorm Eingang fehlt seiner Schneehütte noch. Ich hingegen suche zunächst mal eine günstige Startposition. Wenn ich mich anstrenge, schaffe ich die Aufholjagd vielleicht. Gernert ahnt schließlich nichts davon, dass ich sein kleines Winterabenteuer post factum zum Wettstreit zwischen uns erklärt habe. Das ist meine einzige Chance. Vielleicht habe ich einen halben Tag. Vielleicht einen ganzen. Dann ist der Buschmüller sicher fertig.

Hoffen auf einen Eskimo

Wo fange ich an zu suchen? Wir sind in der Sächsischen Schweiz, im watteweichen mitteleuropäischen Winter, nicht in der Arktis. Einen Eskimo sieht man in den sächsischen Bergen so selten wie den Halleyschen Kometen in Erdnähe. Das nächste Mal vielleicht in 76 Jahren. Und ob der dann was vom Iglubauen versteht …

Ob Wikipedia vielleicht helfen kann? Oder ein Ethnologe, der sich mit Völkern in der Polarregion beschäftigt? Soll ich eine Forschungseinrichtung auf Spitzbergen anrufen? Oder die sibirische Küstenwache? Schnell wird mir klar, dass es nur einen einzigen Ort auf der Welt gibt, wo mein Vorhaben eine zumindest vorstellbare, wenn auch geringe Erfolgsaussicht hat. Grönland! Freitagvormittag in Dresden, 7 Uhr Ortszeit auf der anderen Seite des Atlantiks. Ich klemme mich ans Telefon.

Innerhalb kürzester Zeit schaffe ich es, in der westlichen Hemisphäre eine ganze Reihe von unschuldigen Leuten zu nerven: Grönlands staatliche Tourismusagentur und einen Spezialreisevermittler in Kopenhagen, einen unausgeschlafenen Bürgermeister an der grönländischen Westküste, der zwar schon mal ein Iglu gebaut hat, die Sache auf Englisch aber nicht so richtig erklären kann. Die grönländische Provinzregierung in Nuuk. Oder besser gesagt deren Anrufbeantworter. Die Frühstücksbelegschaft einer Lodge am Polarkreis, oder war’s gar noch 400 Kilometer weiter im Norden? Ich weiß es nicht mehr. Auf ein paar Meilen mehr oder weniger kommt’s wohl auf der weltgrößten Insel auch nicht an. Am Ende meiner telefonischen Weltreise lande ich schließlich bei Kaare Arnfeldt Krebs. Der Mann sitzt gewissermaßen auf dem Scheitel der Erde, nicht mehr weit vom magnetischen Nordpol entfernt. In Ilulissat. Im beheizten Büro des World of Greenland Visitor Centers. In der tiefgefrorenen Disko-Bucht. Kaare ist ein gutmütiger Typ, er hat ein offenes Ohr, und er hat die richtigen Kontakte. Das Problem: Als ich anrufe, ist die ganze arktische Gemeinde gerade auf den Beinen, um die Rückkehr der Sonne zu erleben. Nach wochenlanger Polarnacht-Finsternis hat sie erstmals wieder flüchtig hinterm Horizont hervorgeblinzelt. Ilulissat feiert. Ungewiss, ob und wann Kaare seinen Kontakt erreicht.

Meine Gedanken, die sich den ganzen Vormittag lang wie im Laufrad um den Globus gedreht haben, kommen urplötzlich zu einem Halt. Wohl oder übel muss ich mich mit der Tatsache abfinden, dass ich nichts weiter tun kann. Jetzt entscheiden andere über den Ausgang des Wettstreits. Warten! Ohne die Hilfe der Grönländer komm ich nicht mehr weiter. Den ganzen Nachmittag lang übe ich mich in Geduld – doch von der anderen Seite der Welt kommt keine Antwort. Der Posteingang meines E-Mail-Fachs bleibt leer. Kaare hat meine Anfrage an einen Mann namens Jens Kristian Reimer weitergeleitet, den die Einheimischen in der Disko-Bucht als Iglu-Spezialisten kennen.

Ein Inuit mit deutsch klingendem Namen. In Ilulissat ist das dem Vernehmen nach keine Seltenheit, weil sich in den vergangenen Jahrhunderten viele Holländer dort in der Gegend niedergelassen haben. Stunden zuvor war ich bei meinen Recherchen bereits über einen ähnlich einprägsamen Namen gestolpert. Der Bürgermeister der drittgrößten grönländischen Stadt (knapp 4 500 Einwohner) heißt bezeichnenderweise Ole Dorff. Inzwischen wird es Abend in Dresden. Und auf den Abend folgt die Schlafenszeit. Auch im hohen Norden werden sich jetzt wohl bald die letzten Polarnachtschwärmer in ihren Häusern und Winterdaunen verkriechen.

Mein Iglu-Spezialist hat sich noch nicht gemeldet. Ich checke ein allerletztes Mal meine E-Mails. Nichts. Schweren Herzens gebe ich mich geschlagen. Das war’s. Aus und vorbei. Freitag, der 13. – mein Pech! Gleich morgen früh rufe ich den Buschmüller an und gratuliere ihm. Wenn ich schon der Verlierer bin, dann wenigstens kein schlechter. Ein Mann trägt seine Niederlagen mit Fassung. Und zumindest in Grönland wird ja auch niemand davon erfahren …

Unser Autor Hartmut Landgraf ist Journalist und Outdoor-Experte. Sein Hauptaugenmerk gilt der Sächsischen Schweiz. Seine Berichte erscheinen auf der Internetseite. Zum zweiten Mal gibt er zudem das Magazin Sandsteinblogger heraus.