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Von der Hauptstadt in die Pampa

Eine Berlinerin zieht es in ihren Geburtsort zurück. Inzwischen ist auch der Sohn samt Familie hier. Und möchte nicht mehr zurück in die Großstadt.

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Von Jürgen Müller

Dass sie jemals wieder in ihren Geburtsort Tronitz im Käbschütztal zurückkehren wurde, das hatte sich die heute 72-jährige Jessy Oehmichen-Albrecht wohl nicht träumen lassen. 1953, mit gerade mal elf Jahren, musste sie ihre Heimat verlassen. Ihr Vater saß in Bautzen in Haft, die Mutter flüchtete mit der Tochter nach Westberlin. Dort wurde sie später eine offenbar sehr erfolgreiche und vermögende Antiquitätenhändlerin. Zu DDR-Zeiten war die frühere Rallye-Fahrerin oft in der DDR, machte auch einen Abstecher nach Tronitz. Und musste zusehen, wie das frühere elterliche Haus mehr und mehr verfiel. Deshalb stand für sie mit dem Mauerfall fest: Ich kehre in meine Heimat zurück. Inzwischen hat sie das uralte Fachwerkhaus sanieren lassen. Das ursprüngliche Haus stammt aus dem Jahre 1784. Sie gehört zur sechsten Generation der Albrechts, die dort wohnt. So alle 100 Jahre wurde das Haus neu gebaut oder umgebaut. Der letzte Neubau stammte aus dem Jahr 1904.

Doch nicht nur sie zog von der Hauptstadt in die tiefste sächsische Provinz. Inzwischen ist auch Sohn Mirko mit Ehefrau Alexandra-Henriette Hegenbart-Albrecht und den mittlerweile fast fünf Jahre alten Kindern Markes und Matheo nach Tronitz gezogen.

Die jungen Leute haben das Gesindehaus des ehemaligen Vierseithofes abgerissen und an der gleichen Stelle ein schmuckes Wohnhaus errichtet. Historie und Moderne bilden so eine gelungene Symbiose auf dem früheren Bauernhof. Das setzt sich auch im Inneren fort. Antike Möbel und moderne Einrichtung bilden im großen Wohnzimmer einen interessanten Gegensatz. „Die Möbel stammen aus unserem Haus. Wir haben sie damals nach Berlin geholt, aufgearbeitet und jetzt wieder nach Tronitz gebracht“, sagt Jessy Oehmichen-Albrecht. Die schlanke Frau mit den roten Haaren lächelt zufrieden. So kontrastieren ein altes Ölgemälde und eine Holztruhe mit dem modernen, großen Flachbildschirm gleich nebenan. „Ja, uns gefällt dieses Miteinander von Neu und Alt, nicht, weil es die Möbel der Schwiegermutter sind, sondern weil es unser Geschmack ist“, ergänzt die Schwiegertochter. „Es ist wahr, wir haben das Haus nach den Möbeln gebaut“, so Mirko Oehmichen-Albrecht, der eine schwere Zeit hinter sich hat. Der Goldschmied hatte vor vier Jahren auf der Fahrt nach Tronitz nahe Radeburg einen schweren Autounfall, erlitt insgesamt 17 Knochenbrüche, wart seitdem arbeitsunfähig. Vor zwei Wochen eröffnete er eine Goldschmiede in Meißen, in der er vor allem eigene Kreationen anbietet, während seine Frau als Physiotherapeutin arbeitet.

Die Berliner haben sich auf dem Land nicht nur eingelebt, sondern fühlen sich pudelwohl. Auf 250 Quadratmetern Wohnfläche haben sie mehr als genug Platz, Platz auch, um Freunde einzuladen. „Viele Freunde sagen, wir seien von der Großstadt in die Pampa gezogen. Doch wenn sie ein paar Tage hier waren, wissen auch sie die Ruhe und die schöne Umgebung zu schätzen“, sagt der 42-Jährige. Gerade waren wieder sieben Leute mit Kindern zu Besuch. Rasenmähen ist für die Großstädter ein besonderes Erlebnis.

Na klar hat die Einsamkeit und Abgeschiedenheit auch ihre Schattenseiten. „Beim Einkaufen muss man schon seine Gedanken zusammennehmen. Einfach mal schnell über die Straße, um ein Stück Butter zu kaufen, das geht nun mal hier auf dem Dorf nicht“, sagt Alexandra-Henriette Hegenbart-Albrecht. Auch die vielen Seen in und rund um Berlin vermissen die Potsdamerin und der Berliner schon ein bisschen. „Da stellen wir eben im Sommer einen Pool für die Kinder in den Garten“, sagt sie. Dafür ist es bis Dresden, Leipzig, die Sächsische Schweiz, nach Moritzburg oder ins Erzgebirge nicht weit. Und hier sei man sogar schneller im Theater oder in der Oper. „In Berlin habe ich eineinhalb Stunden bis zur Oper gebraucht. Von hier aus bin ich in einer Stunde in der Semperoper in Dresden“, sagt Jessy Oehmichen-Albrecht. Und die Schwiegertochter hat zwar einen deutlich längeren Arbeitsweg als in Berlin, braucht dafür aber nur die Hälfte der Zeit.

Das Ehepaar ist sozusagen gelebte Wiedervereinigung. Seit 20 Jahren kennen sich die Potsdamerin und der Westberliner, seit acht Jahren sind sie verheiratet. Vom Dorf weg wollen sie nicht mehr. „Im Sommer ist es fast wie jeden Tag Urlaub“, sagt die Schwiegertochter, und die Schwiegermutter wundert sich: „In Berlin hat sie kein Stück Erde angefasst. Aber hier buddelt sie im Garten wie ein Maulwurf“, sagt sie und lacht. Auch die beiden Kinder, die in Löthain in den Kindergarten gehen und nächstes Jahr in Krögis eingeschult werden, fühlen sich hier auf dem Land wohl, kennen ja die Großstadt gar nicht. „Wenn wir mal in Berlin sind, wollen sie bald wieder nach Hause“, sagt deren Mutter. Hier in Tronitz können die Kinder draußen spielen, ohne dass sich die Eltern Sorgen machen müssen. Nur selten verirrt sich ein Auto über die schmale Straße in den Ort, der insgesamt 21 Einwohner hat. „Wir möchten nicht mehr tauschen, auch weil der Menschenschlag hier ein anderer ist. Die Leute sind offener, entspannter, nicht so hektisch und nicht so getrieben wie in Berlin’“, sagt Mirko Oehmichen-Albrecht. „Viele Freunde sagen, wir seien offener, viel ruhiger und entspannter geworden, seit wir hier auf dem Land leben.“ Die Großstädter sind auf dem Land heimisch geworden.