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Von der Hand in die Flasche

Auf Schloss Wackerbarth wird kurz vor dem Weinfest der Riesling gelesen – per Hand. Die SZ war an einem Erntetag dabei.

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© Norbert Millauer

Von Dominique Bielmeier

Radebeul. Unzählige Steinchen auf trockenem Sand, darüber dorniges Gestrüpp, das flach über den Boden kriecht und sich bei der ersten Gelegenheit um den Knöchel schlingt – ein falscher Schritt, ein kurzes Stolpern und der Untergrund gibt nach; der steinige Abgrund, die Stufe von einer Weinterrasse zur nächsttieferen, kommt bei dieser Neigung gefährlich schnell nahe. So schön wie der unverstellte Blick auf ganz Radebeul zu Füßen und das morgendliche Dresden in nebliger Ferne ist, er verspricht keinen Halt. Auch die Wände aus grün-gelbem Laub zu beiden Seiten tun das nicht. Hier braucht man gute Schuhe, einen intakten Gleichgewichtssinn und das Vertrauen, dass alles schon irgendwie gutgehen wird. Weil es das immer tut.

Aus der Bütte auf den Hänger: Der Auszubildende John Oaks hat einen der anstrengendsten Jobs bei der Handlese – 40 bis 50 Kilo können gefüllte Bütten schwer sein.
Aus der Bütte auf den Hänger: Der Auszubildende John Oaks hat einen der anstrengendsten Jobs bei der Handlese – 40 bis 50 Kilo können gefüllte Bütten schwer sein. © Norbert Millauer

Steillage. Das Wort, das die Herzen von Winzern höher schlagen lässt – Der Sonneneinfallwinkel! Die Wärme speichernden Böden! – tut das ebenso bei den Erntehelfern, wenn auch aus ganz anderen Gründen. Weil die steilen Hänge kein Traktor bezwingen könnte, müssen hier Menschen ran. Besser gesagt: Hanghühner.

So werden die Erntehelfer auf Schloss Wackerbarth scherzhaft genannt, nach dem Fantasiewesen, das aufgrund seines extremen Lebensraumes ein längeres und ein kürzeres Bein entwickelt haben soll. Am Donnerstag vor dem Weinfest durfte die SZ mit den Hanghühnern von Schloss Wackerbarth einen Vormittag lang im Weinberg unterwegs sein und die Lese begleiten.

Die beginnt schon früh. Um sieben Uhr morgens treffen sich die rund 50 Erntehelfer auf dem Wackerbarthberg. Schon der Anstieg ist mühsam, denn es geht bis fast ganz nach oben. Die Fünfer-Teams sind schnell festgelegt, dann werden die Weinzeilen zugewiesen und Werkzeuge verteilt: Jeder Erntehelfer erhält einen roten Eimer für die Trauben, eine spezielle Leseschere und Handschuhe aus Latex, sofern er nicht schon eigene mitgebracht hat.

Eine besondere Rolle haben die Büttenträger. In den großen Kunststoffbehältern, die sie auf dem Rücken tragen, werden die gelesenen Trauben gesammelt, bevor sie in große Kästen auf einem Anhänger gekippt werden. 40 bis 50 Kilogramm können in einer Bütte zusammenkommen, erklärt Martin Junge.

Der Sprecher von Schloss Wackerbarth packt heute mit an, genau wie weitere Kollegen aus der Verwaltung. Im Prinzip könnte jeder zum Erntehelfer werden, das Weingut bietet sogar Erlebnisweinlesen an, die nächste findet am 7. Oktober statt. Für die Hobbyhelfer gibt es dann „eine rustikale Winzermahlzeit im Weinberg sowie eine Auswahl verschiedener Getränke“, außerdem ein kleines Geschenk. Richtige Erntehelfer werden nach Mindestlohn bezahlt. Am Ende ist es aber egal, wer die Trauben gelesen hat: Aus allen wird Wein.

Till Neumeister, Weinbauleiter von Schloss Wackerbarth, erklärt, worauf bei der Lese zu achten ist: Zunächst wird alles Laub von den Stöcken abgezupft, das die Trauben verdeckt. Dann werden diese mit der Schere vom Stamm geschnitten und die dunkleren, schimmligen Beeren mit der langen Spitze herausgelöst. Der Grauschimmel „Botrytis“ ist bei diesem Wein – einem Riesling Kabinett mit Restsüße – nicht erwünscht, auch wenn es sich um Edelfäule handelt.

Ist eine Traube zu sehr befallen, landet sie genau wie die ausgelesenen Beeren einfach auf dem Boden zwischen den Weinzeilen. Weil sich immer fünf Erntehelfer in einer Zeile von unten nach oben hocharbeiten, müssen die untersten besonders auf ihre Schritte achten. Durch dieses System ist eine Zeile aber schon in wenigen Minuten ausgelesen. Schnell stellt sich Routine ein. Die Erntehelfer unterhalten sich leise und arbeiten über längere Zeit auch einmal ganz still vor sich hin. Dann ist nur das Schnippschnapp der Scheren zu hören, gefolgt von dem dumpfen Geräusch der Trauben, die in Eimer fallen.

Der Lärm der Autos, die im Sekundentakt über die Meißner Straße nur wenige Hundert Meter entfernt fahren, wirkt oben auf dem Weinberg fast wie ein beruhigendes Hintergrundrauschen. Die Stimmung ist trotz der schweren Arbeit – hangab, hangauf gehen, bücken, stehen, Eimer schleppen – so meditativ, dass sie eine eigene Weinbergsphilosophie hervorbringt. Die geht zum Beispiel so: Weinstöcke sind wie Menschen. Keiner ist wie der andere und mit dem Alter werden sie noch besser, auch wenn irgendwann die Leistung abnimmt. Die Riesling-Stöcke, die an diesem Tag gelesen werden, sind 30 Jahre alt. Aber auch das hört man bei der Weinbergsarbeit: „Deine Mutter hat aus dem Aldi angerufen“, ruft ein Erntehelfer einem anderen über eine Zeile hinweg zu. „Sie steckt schon wieder im Drehkreuz fest.“

Um 9.15 Uhr wird die erste Pause gemacht. Da sind wegen der scharfen Scheren und mancher spitzer Äste nicht nur schon einige Handschuhe halb zerrissen, sondern es wurde auch bereits ein ganzer Hänger mit Trauben gefüllt. Zwei Mitarbeiter schauen sich das Lesegut vor dem Abtransport noch einmal an. Eine Traube hat noch zu viel Grauschimmel, riecht bereits leicht nach Essig. Da wird nicht lange gefackelt, mit Schwung fliegt sie zurück in den Weinberg. Die anderen Trauben werden noch am selben Tag gepresst. Ein paarmal wird der Hänger noch vorfahren müssen. Die Hanghühner von Schloss Wackerbarth haben gerade erst begonnen.