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Vom Polarkreis nach Tautendorf

Nicole Rietzschel zog mit ihrer Familie von Lappland in einen alten Gasthof. 210 Kilometer zum Arzt zwangen sie dazu.

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© André Braun

Von Doreen Hotzan

Leisnig/Tautendorf. Auf der Speisekarte stehen skandinavische Spezialitäten. „Bei uns gibt es über dem Feuer gegrillten Elch, Rentier oder Lachs“, sagt Matthias Bittner. Immer an den Wochenenden sind bei seiner Lebensgefährtin Nicole Rietzschel und ihm im Gasthof Tautendorf Gäste gern willkommen. Dort lebt das Paar gemeinsam mit den fünf Kindern seit Sommer 2014. Zuvor stand das Gebäude zwei Jahre leer.

Eigentlich hatte die Patchwork-Familie nie vorgehabt, in dem Haus Gäste zu bewirten, erzählt Nicole Rietzschel. Das habe sich eher zufällig ergeben. „Wir wollten hier nur wohnen. Doch kurz nachdem wir hier eingezogen sind, standen bei uns ständig Leute im Garten, die etwas essen und trinken wollten“, erzählt die 40-Jährige. Also habe sich die Familie dazu entschlossen, den Gaststättenbetrieb an den Wochenenden aufzunehmen. Dass es dort überwiegend skandinavisches Essen gibt, ist kein Zufall. Denn die Familie lebte zehn Jahre lang in Lappland – ein Lebenstraum von Matthias Bittner.

Dort betrieben die studierte Gemeindepädagogin und der gelernte Fliesenleger unter anderem eine Autowerkstatt und hatten eine eigene Pension. Wahrscheinlich würde die siebenköpfige Familie noch immer dort leben, wenn sich die Lebensbedingungen dort nicht rapide verschlechtert hätten. „Uns war immer wichtig, dass sich in Wohnortnähe ein Arzt, eine Schule, eine Kindertagesstätte und etwas zum Einkaufen befindet“, sagt Matthias Bittner. Doch noch vor dem Umzug nach Lappland schloss die Schule in der dünn besiedelten Gegend. „Die Kinder hatten dann einen Schulweg von 25 Kilometern zurückzulegen“, erzählt der Vater. Dieser Zustand sei nicht von Dauer gewesen. Nach und nach verließen immer mehr Lehrer die Einrichtung. „Zuletzt wurde der Unterricht von Müttern durchgezogen“, so der 42-Jährige.

Weiter Weg zum Arzt

Aber auch um die medizinische Versorgung war es nicht gerade gut bestellt. Der Arzt schloss ebenfalls. Der nächste war weit entfernt. So hätte die Familie im Notfall knapp 210 Kilometer zurücklegen müssen. Zum Vergleich: „Das ist quasi die Strecke von Tautendorf nach Berlin“, erläutert Matthias Bittner. Wie dramatisch das im Ernstfall werden kann, hat das Paar selbst erlebt. Beim Toben fiel einer ihrer Söhne durch eine Glasscheibe. „Er hat sehr stark geblutet. Wir haben uns dann selbst um die Versorgung der Wunden gekümmert. Unser Kind wäre verblutet, bis der Notarzt endlich eingetroffen wäre“, sagt Nicole Rietzschel. Dieses Erlebnis habe dann dazu geführt, dass die Familie zurück nach Deutschland kam.

Genau wie in Lappland auch setzen Matthias Bittner und Nicole Rietzschel hier in beruflicher Hinsicht auf mehrere Standbeine. Neben dem Gaststättenbetrieb gibt sie Nachhilfe in Leisnig. Außerdem hat die 40-Jährige vor einer Woche eine halbe Stelle als Gemeindepädagogin in der Kirchgemeinde Leisnig-Tragnitz-Altenhof angetreten. Der Job war bisher mit Michael Richter besetzt. Weil dieser nun nach Schwerin wechselte, wurde ein Nachfolger gesucht. Da Nicole Rietzschel schon eine Weile nicht mehr als Gemeindepädagogin gearbeitet hat, benötigte sie noch einige Auffrischungen auf diesem Gebiet. Ab Februar startet sie richtig durch. „Ich übernehme den Religionsunterricht und die Christenlehre in Leisnig“, sagt Nicole Rietzschel. Weiterhin will sie ihre pädagogische Ausbildung dazu nutzen, um ab März auf dem Areal des Gasthofs therapeutisches Reiten anzubieten. Dort leben neben Ponys weitere Tiere wie Gänse, Ziegen, Hühner, Sittiche, Meerschweinchen und Hasen. In ferner Zukunft wollen Matthias Bittner und Nicole Rietzschel auch Übernachtungen in ihren eigenen vier Wänden anbieten.