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Vom Klassenzimmer aufs Stahlgerüst

Klippenspringerin Anna Bader unterbricht ihr Referendariat an einer Schule für einen WM-Start in Kasan.

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© dpa

Von Jörg Soldwisch

Sollte Anna Bader mit ihrer spektakulären Flugshow eine WM-Medaille gewinnen, dann wäre das ein wenig auch Angela Merkel zu verdanken. Eigentlich hatte Bader das Klippenspringen mit dem Klassenzimmer getauscht, doch das Unterrichten allein machte die 31-Jährige nicht glücklich. Also erwirkte sie beim Kultusministerium eine Auszeit vom Referendariat – unter anderem mit dem Glückwunschschreiben der Bundeskanzlerin, das Bader nach ihrer Bronzemedaille bei der WM-Premiere der Extremsportart vor zwei Jahren in Barcelona erhalten hatte.

„Ich habe versucht, sesshaft zu werden. In den Sommerferien habe ich aber entschieden, dass ich für den Sport noch mal alles geben will“, sagte die angehende Lehrerin für die Fächer Englisch und Erdkunde vor ihrem heutigen WM-Springen von einem Stahlgerüst aus 20 Metern.

Wie schon in Barcelona zählt Bader zu den Favoritinnen, und wieder wird Tausenden Zuschauern am Ufer der Atem stocken, wenn sich die zehn Athletinnen mit waghalsigen Sprüngen schnell in die Kasanka stürzen. „Die Hymne für mich zu hören, das wäre natürlich der absolute Traum“, sagte Bader. „Aber ich werde jeden Sprung feiern und jede Sekunde genießen.“ Die WM-Teilnahme der Extremsportler sei „ein Geschenk des Himmels“.

Bei der WM-Premiere vor zwei Jahren hatte Bader bereits die Blicke auf sich gezogen. Zuerst ließ die achtmalige Europameisterin für den Playboy den Badeanzug fallen, dann sprang sie aufs Podest. Bader sorgte mit dafür, dass das High Diving, wie die Sportart offiziell heißt, auf Anhieb ein Zuschauermagnet war.

Das verrückt anmutende Klippenspringen hat aber auch an Qualität zugelegt. „Das, was ich an Sprüngen in Barcelona gemacht habe, konnte ich in der Luft noch genießen“, sagt Bader: „Jetzt ist alles dynamischer und akrobatischer, man fühlt sich fast wie in einer Achterbahn.“

Mutter Angelika Kern, die als Turnerin 1968 und 1972 bei Olympia teilgenommen hat, schaut ihrer Tochter heute ohne Angst von der Tribüne aus zu. „Das ist ja nicht von heute auf morgen so gekommen“, sagt Kern. Sie habe sich fünf Jahre Schritt für Schritt an die 20 Meter herangewagt.

Zum Klippenspringen kam sie bei einem Jamaika-Urlaub. Einheimische beobachteten die Sprünge der damals 17-Jährigen von einer „Plattform für Touris, sieben Meter hoch“, und luden sie prompt ein: „Du bist Profi, du kannst bei uns mitspringen.“ Bis zum Sonnenuntergang stürzte sich der Teenager aus Mutlangen „von den zwölf Meter hohen Klippen“ ins Karibische Meer. Eine laiengerechte Erklärung, was den Reiz des Sprungs aus 20 Metern Höhe ausmacht, hat sie noch nicht gefunden. „Ich habe es oft probiert, aber ich glaube, ich hab es nie wirklich geschafft“, erklärt sie und erzählt von Spaß, Fluggefühl, Überwindung und Grenzen.

Für die WM trainierte sie in einem Freizeitpark in Frankreich. Vor ihrem dritten Platz in Barcelona hatte sie drei Jahre ein Zirkusleben in Macau geführt, beim ehemaligen Cirque-du-Soleil-Regisseur in einer millionenschweren Aquatic Show mitgewirkt. Wie fast alle Klippenspringer liebt auch Bader die Freiheit. Die strengeren Regeln des internationalen Schwimmverbandes Fina, unter anderem die Aufnahmen in den Testpool der Nationalen Anti-Doping-Agenturen, gefallen nicht jedem.

Doch die Fina hat das enorme Potenzial erkannt, wie zuvor schon der österreichische Brausehersteller Red Bull, der die Sportart seit einigen Jahren mit viel Geld, cleverem Marketing und spektakulären Austragungsorten enorm pusht. Inzwischen ist selbst die Aufnahme ins olympische Programm nicht ausgeschlossen.

Die deutschen Wasserspringer, die sich höchstens aus zehn Metern ins Wasser stürzen, haben die Exoten wie Bader anfangs neidisch beäugt – auch wegen der medialen Präsenz. Inzwischen gibt es beim deutschen Schwimmverband einen Beauftragten für High Diving, und Bader erhält Einladungen ins Trainingslager. Und vielleicht gibt es ja auch nach Kasan wieder ein Schreiben der Bundeskanzlerin.

Biedermann gibt Rätsel auf

Nebenan in der Kasan-Arena verblüffte Freistilschwimmer Paul Biedermann gestern erst mit einem merkwürdigen Selbstinterview, dann ließ der Weltrekordler Zweifel an seiner Medaillenform aufkommen: Der Hallenser zog auf seiner Paradestrecke 200 Meter Freistil zwar als Sechster des Halbfinals in den heutigen Endlauf ein, doch wirklich überzeugen konnte er nicht.

Nach dem Vorlauf war er noch deutlich selbstbewusster aufgetreten und hatte ein 49 Sekunden langes Selbstinterview geführt, das Erinnerungen an eine legendäre Pressekonferenz von Klaus Augenthaler als Trainer des VfL Wolfsburg weckte: „Hallo, ich gebe Antworten, und die Fragen stelle ich auch selber“, hatte der Freund von Britta Steffen die Journalisten begrüßt. „Wie war das Rennen? Das Rennen war okay. Jetzt wird’s umso spannender im Semifinale, und da freue ich mich jetzt drauf. Wie hat sich das Wasser angefühlt? Immer noch nass, aber schon etwas besser. Ich brauche immer einen Wettkampf, um reinzukommen.“ (sid/mit dpa, SZ/dk)

TV-Tipp: Die ARD überträgt ab 17.30 Uhr, Eurosport ab 16.15 Uhr und ab 18.30 das Klippenspringen der Frauen.