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Vom Geben und Nehmen

Ohne die Niere seiner Frau Marion wäre Holger Liebscher sein Leben lang auf Maschinen angewiesen gewesen.

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© Sven Ellger

Von Henry Berndt

Er hat sich bis zum Schluss gewehrt. Gegen die Hartnäckigkeit seiner Frau hatte Holger Liebscher aber keine Chance. Und irgendwie ist es jetzt auch schön, so gemeinsam auf dem Sofa zu sitzen, sich tief in die Augen zu schauen und sich zu sagen: Es war die richtige Entscheidung.

Vor dreieinhalb Jahren spendete Marion Liebscher ihrem Mann eine Niere. Wer die 52-Jährige und den 56-Jährigen heute in ihrer schicken Wohnung nahe der Elbe im Stadtteil Zschieren erlebt, der kann kaum mehr nachvollziehen, welch schwere Zeit sie gemeinsam durchlebt haben. Vorweggenommen sei bereits: Das Drama hat ein Happy End, zumindest bis auf Weiteres.

Schon als sie sich 2009 kennenlernten, galt Holger als akut nierenkrank. Bluthochdruck und die harten Schichten in der Gießerei hatten ihren Tribut gefordert. Dank einer Cortisontherapie wurde es aber bis zu ihrer Hochzeit zwei Jahre später zumindest nicht schlechter. Und wie das bei Männern so ist: Wenn es nicht schlechter wird, dann ist es doch okay. Aber gar nichts war okay in seinem Körper. 2012 verschlechterte sich sein Zustand dramatisch. Er fühlte sich schwach, die Haut juckte, die Fingernägel brachen. Bis zur Dialyse schien es nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Das hätte bedeutet: Ein Leben lang dreimal in der Woche für fünf Stunden an die Blutwaschmaschine. „Unsere ganze Lebensplanung lag in Scherben“, sagt er. Mit großer Sicherheit wäre er dauerhaft erwerbsunfähig geworden. Und die Urlaubsreisen, die sie so lieben? Undenkbar. „Was wäre das noch für ein Leben gewesen?“

Seine Frau Marion belas sich und rettete sich schnell in einen Plan, der sie in ihrer Not beflügelte, ja euphorisierte: „Mach dir keine Sorgen“, sagte sie schon früh zu ihm. „Kriegste von mir ein Nierchen.“ Ganz so einfach ist das dann aber doch nicht, vor allem dann, wenn der Patient das Geschenk gar nicht annehmen will. „Sie war ja vorher völlig gesund“, sagt Holger. „Bei so einer großen Operation kann so viel passieren. Und ich wusste ja: Auch sie würde mit einer eingeschränkten Nierenfunktion leben müssen.“

Das Problem: nur über das Organspende-System kann der Bedarf an gesunden Nieren in Deutschland nicht abgedeckt werden. Als Notlösung bleibt oftmals nur die Spende innerhalb der Familie.

Mitsamt seiner Zweifel wurde Holger Liebscher von seiner Frau und dem Schicksal mitgezogen. Im Transplantationszentrum der Uniklinik fühlten sie sich gut aufgehoben. Ende 2012 kamen Holger und Marion erstmals stationär ins Krankenhaus. Es folgten unzählige Tests und Befragungen. Eine Ethikkommission wollte beispielsweise wissen, ob ihr Mann Marion womöglich Geld für ihre Niere bietet.

Als der Weg für die Operation endlich frei zu sein schien, wurde bei ihr eine Zyste an der Niere entdeckt. „Das war der schlimmste Moment überhaupt“, erinnert sie sich. Für einige Tage erschien ihr Plan gescheitert, dann gab es doch das „Go“.

Mitte März 2014 steht endlich der große Tag an, nachdem die beiden einen Monat zuvor schon einmal im Krankenhaus eingerückt waren – ausgebremst durch eine Thrombose in Holgers Bein.

Diesmal aber passte alles zusammen. Morgens 7.30 Uhr ging’s los. Fast gleichzeitig wurden sie zwei Operationen später nebeneinander wach. Marions erster Blick ging sofort zu Holgers Bett. Ist die Niere auch gleich angesprungen? Ja, ist sie. Gott sei Dank! Marion hat Schmerzen. Für die Entnahme wurde ihre rechte Seite aufgeschnitten. Holger geht es viel besser. „Ich könnte ’ne Bockwurst essen“, war einer seiner ersten Sätze, wenngleich auch er in den folgenden Wochen und Monaten immer wieder gesundheitliche Rückschläge erlebte. Nach langem Kampf mit ihren Rentenversicherungsträgern durften sie gemeinsam zur Kur fahren.

Bis heute wird Marion immer wieder von Schmerzattacken heimgesucht, besonders, wenn das Wetter umschlägt. „Aber es ist aushaltbar“, sagt sie. Sie dürfe eben nicht mehr so lange sitzen. Zuletzt habe ihr Akupunktur sehr gutgetan.

Holger muss heute täglich 13 Tabletten nehmen. Damit sein Körper die neue Niere nicht abstößt, ist sein Immunsystem dauerhaft heruntergefahren. Das Risiko ist immer da. „Eine schwere Grippe kann ausreichen, und der Traum ist aus“, sagt er. „Ich bin nicht geheilt, nur anders krank.“

Das allerdings klingt dann doch schlimmer, als es sich für die beiden anfühlt: Sie gehen arbeiten, fahren danach viel Rad und gehen ins Fitnessstudio. Letztes Jahr flogen sie nach Kuba – die erste große Reise nach der OP. Im Winterurlaub brausen sie die Pisten hinunter. Zu Hause erwartet sie ihre Patchworkfamilie mit insgesamt fünf Kindern, inklusive eines Enkels. Der zweite ist unterwegs.

„Ich habe meiner Frau so viel zu verdanken“, sagt Holger. „Das kann ich nie wieder gutmachen.“ Und das soll er auch nicht. Gesprächsthema sind die Nieren in ihrem Alltag kaum noch.

Dafür ist jetzt der Verein „Das zweite Leben“ da, in dem sie Mitglied sind. 2012 wurde er von sieben Paaren als Selbsthilfegruppe gegründet, um sich über Ängste und Hoffnungen nach einer Nierenspende auszutauschen und anderen Mut zu machen. Mut zum Geben. Und zum Nehmen.

www.das-zweite-leben.de