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Volle Wolle

Sie zu umgarnen geht gar nicht, denn Gertraude Braun weiß auch mit 96 ganz genau, was sie will.

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© Stefan Becker

Von Stefan Becker

Locker läuft der Faden über ihre Finger, dreht eine Pirouette auf der Nadelspitze und reiht sich dann hübsch ein neben den anderen Maschen. Auch mit 96 Jahren haben die Hände von Gertraude Braun nichts von ihrem Geschick verlernt – ganz im Gegenteil: Galt stricken für Frauen früher als unerlässlich, um die Familie im Winter in wärmende Wolle zu hüllen, so dient ihr das Klimpern mit den Nadeln heute als willkommenes Fitnesstraining. Vorzugsweise vor dem Fernseher.

Erinnerungen für die Ewigkeit: Die Einschulung von Sohn Matthias in den 50ern...
Erinnerungen für die Ewigkeit: Die Einschulung von Sohn Matthias in den 50ern... © privat
... und die kleine Gertraude im weißen, von der Mama genähten Kleid.
... und die kleine Gertraude im weißen, von der Mama genähten Kleid. © privat

Wenn die kleine resolute Dame ihren Korb mit den vielen farbigen Wollknäulen neben ihrem Sessel aufbaut im Zimmer des Seniorenheims, dann entstehen Ringelsocken aus dem Nichts, dann bekommen die Mitarbeiter der AWO in Prohlis wieder bunten Nachschub für ihren nächsten Weihnachtsbasar. Bis dahin vergehen zwar noch Monate, doch die ersten drei Paare liegen schon bereit und Gertraude Braun muss schließlich im Training bleiben.

Denn trainiert hat die Vollblut-Striesenerin immer, wie sie erzählt. Sie begeisterte sich für Leichtathletik, rannte, sprang und warf, was der Sportunterricht erlaubte. In der Freizeit übte sie dann Radfahren mit ihrem Vater, später Schwimmen und Schlittschuhlaufen. Zur Olympiade nach Berlin fuhr sie selbst zwar nicht, doch ein Onkel und ein Cousin saßen praktisch stellvertretend für die ganze Familie im Stadion und erstatteten später Bericht: Ihre Eltern zählten zusammen 18 Geschwister.

Diese vielen Verwandten verteilt über ganz Deutschland sollten noch großen Einfluss haben auf das Leben von Gertraude Braun. So führte sie zum Beispiel der Besuch bei einem anderen Onkel in Stralsund fast direkt in die Arme ihres zukünftigen Mannes. Doch der Reihe nach. Nach der Schule wollte sie eigentlich den Beruf der Verkäuferin erlernen im Modehaus Möbius. Der Personalchef aber monierte ihre mangelnde Größe und bot stattdessen eine Lehre im Einkauf an. Die energische junge Frau sagte zu und feilschte künftig an fünf Tagen in der Woche mit Vertretern für Knöpfe und Kurzwaren. An den Wochenenden ging sie mit ihrer Striesener Clique zum Tanzen in den Großen Garten oder die illustre Combo radelte in die Sächsische Schweiz zum Klettern. „Wir kannten uns alle aus dem Sandkasten und waren sehr gut befreundet. Da hätte ich mich nie in jemanden verliebt“, sagt sie und lächelt über den Rand ihrer Brille.

Das passierte bei besagtem Besuch eines Onkels in Stralsund. Mitten im Krieg. Flak-Soldat Aribert pumpte gerade Wasser aus einem Brunnen, als Gertraude um die Ecke kam und es zwischen den beiden funkte. Förmlich Blitze müssen geflogen sein zwischen der Dresdnerin und ihrem Leipziger, nicht gerade die Traumkombination im Sinne sächsischer Partnerschaften.

Venus aber meinte es gut mit den beiden. Aribert sollte in Italien die Alliierten aufhalten, landete mit einem Handdurchschuss aber in britischer Gefangenschaft am Gardasee. „Dieses Riva ist sehr schön, wir sind da später einmal hingefahren“, erzählt Gertraude Braun. Sie musste für den Endsieg an der Drehbank kleine Metallteile fertigen, bis der Februar-Feuersturm auch den Betrieb zerstörte: „Ich würde die Bombardierung gerne ganz vergessen und frage mich, warum die Menschen bis heute nicht damit abschließen können.“

Jeden Sonntag auf die Baustelle

Als das Land in Trümmern lag, bauten Gertraude und ihr Aribert es wieder auf. Durch den nächsten Onkel landete sie in der Schreibstube eines Steinmetzes, der zur Restaurations-Mannschaft des Zwingers gehörte. Ihr Gatte heuerte bei der gerade gegründeten Sächsischen Zeitung als Schriftsetzer an. Die erste Wohnung für das junge Paar entstand unter dem Dach einer Tante. Dort kam 1948 auch Sohn Matthias zur Welt. Bis zu den eigenen vier Wänden dauert es noch eine Weile: „Fünf Jahre lang sind wir an jedem Wochenende auf die Baustelle unserer Genossenschaftswohnung auf der Rosa-Menzer-Straße gefahren und haben mit angepackt“, erinnert sich die Seniorin an ihre wilden Sechziger im Sozialismus.

Rentnerin auf West-Besuch

Die Wohnung bot erst der Familie, dann dem Ehepaar und später ihr allein 51 Jahre lang Wärme und Geborgenheit. Dann entschied sie, dass es langsam genug und die Zeit fürs betreute Wohnen gekommen sei. Immerhin hatte sie mit 50 noch den Führerschein gemacht und ihre pflegebedürftige Mutter im Trabant zu den Ärzten chauffiert; ab 60 alle Verwandten in Braunschweig, Hamburg und Düsseldorf besucht und als Aribert in Rente ging, nahm sie ihn mit in den Westen. Was ihr in der alten BRD nicht gefiel? Die vielen Grafitti überall in den Innenstädten: „Da war es bei uns viel sauberer.“ Und was sagt sie zum sanierten Dresden? Wieder ein skeptischer Blick über den Goldrand der Brille: „Also diese ganzen Schachteln, was soll ich sagen, deren Anblick hat mich schon sehr enttäuscht. Aber das interessiert sowieso niemanden, was ich dazu sage.“ Punkt.

Was zähle, das seien Sohn und Schwiegertochter und die zwei Enkel mit ihren Familien samt drei Urenkeln und die ganzen Großcousins in Frankfurt, Stuttgart oder München. Die halten sie fit. Zwar gebe es im Seniorenheim auch Bastelkurse und Training fürs Gedächtnis, doch das pralle Leben sei ihr das Liebste. Wie die Fernsehsendung „Bares für Rares“ mit Moderator Horst Lichter. Dessen breiter Schnauzbart ziert das Cover eines Rätselheftes auf ihrem Nachttisch. Daneben liegt ein Taschenbuch über Katharina von Bora und ihren Martin Luther: „Wenn ich etwas lese, will ich auch was lernen“, sagt die kleine Dame beherzt – dafür ist es nie zu spät.