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Vier Zimmer, Küche, Autobahn

Über 100 000 Autos fahren täglich auf der A4 in Dresden. Eine 38-jährige Mutter kann in ihrer Wohnung jedes davon sehen und hören. Sie hofft, mit den Kindern bald ausziehen zu können. Dabei stört sie der Lärm nicht mal so sehr.

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© Christian Juppe

Von Christoph Springer

Dicker schwarzer Rauch steigt auf an der Autobahn. Ein Pkw brennt auf der Auffahrt am Elbepark. Der Wagen ist plötzlich in Flammen aufgegangen. Es ist ein Freitagmorgen im Dezember 2017. Die Kinder von Andrea Herrmann sind schon aus dem Haus. Aus ihrem Küchenfenster kann die 38-Jährige genau sehen, wo das brennende Auto steht. Schnell geht sie durch die Wohnung und schließt die angekippten Fenster. „Da war so ein Geruch nach Gummi und Benzin“, erinnert sie sich auch Monate danach noch genau an diesen Morgen. „Das war schon ganz schön vernebelt an der Auffahrt.“

Andrea Herrmann hat eine große Wohnung. Vier Zimmer, Küche, Bad, rund 100 Quadratmeter für etwa 700 Euro. Sechs Jahre wohnt sie schon unter dem Dach des hellgrau getünchten Hauses am Riegelplatz. Der Blick aus den Fenstern reicht weit, doch die Aussicht ist nicht besonders schön. Knapp hundert Meter vor ihrem Haus verläuft die A4: drei Spuren Richtung Chemnitz, drei Spuren Richtung Görlitz, dazu eine große Anschlussstelle und ein paar Meter weiter neben dem Elbepark die am meisten befahrene Straßenkreuzung der Stadt. Die gelernte Köchin hat die Dresdner Wohnung mit dem besten Blick auf eine Autobahn. Es ist zugleich eine Wohnung, in der sie nur dann wirklich Ruhe hat, wenn ganz Dresden schläft.

„Tagsüber stört die Autobahn nicht“, sagt die gebürtige Radebeulerin. Sie hat sich an das Geräusch gewöhnt, das die vorbeifahrenden Laster und Pkws verursachen. Es ist ein Dauerrauschen, das immer dann anschwillt, wenn besonders viele Autos fahren. Auch nachts hört das Rauschen nie ganz auf. Deshalb schließt sie dann die Schallschutzfenster. Nur so können ihre drei und acht Jahre alten Söhne Alexander und Simon ruhig schlafen. Ihr eigenes Schlafzimmer ist auf der Rückseite des Hauses. Dort hört man die A4 kaum.

Mehr als 100 000 Autos fahren durchschnittlich pro Tag auf der sechsspurigen Autobahn in Dresden, Tendenz steigend. Dazu kommen vorm Haus von Andrea Herrmann reichlich 25 000 Autos auf der Kötzschenbroder Straße. „Die ist lauter als die Autobahn“, sagt die 38-Jährige, während unten ein 40-Tonner vorbeifährt. Der Fußboden im Wohnzimmer vibriert, der Lärm übertönt, was sie noch sagen will. Dann steht sie auf und schließt die Balkontür. Der Freisitz direkt über der Kötzschenbroder Straße ist immer leer. Dort ist es viel zu laut, um draußen zu sitzen.

Durch diese Tür konnte sie einmal beobachten, wie gegenüber auf dem Rasen zwischen der Autobahnauffahrt und einem Zaun ein Rettungshubschrauber landete. An den schweren Busunfall im Juli 2014, bei dem elf Menschen ums Leben kamen, kann sie sich dagegen nicht mehr erinnern, sagt die 38-Jährige. Die Unfallstelle nahe der Autobahnbrücke über die Elbe ist von ihrer Wohnung aus nicht zu sehen, Bäume und Büsche verdecken die Sicht. Dafür sieht sie alle Pkws, Busse und Laster, die über die A4-Brücke am Elbepark fahren, jede Stunde mehr als 4 000. Dort ersetzen große Glasscheiben die gemauerten Schallschutzwände. Nur ein Firmengelände liegt noch zwischen ihrem Mietshaus auf der A4, ein Autohandel.

Als ein Schwertransport mit großen Rohren und Maschinen vor ihrem Haus auf die Autobahn fuhr, stand Andrea Herrmann gern am Fenster. Gemeinsam mit ihren Kindern. Das war ein Spektakel! „Da haben sie vorher sogar die Straße um ein paar Zentimeter breiter gemacht“, sagt die 38-Jährige. Wann das war, hat sie vergessen. „Das Blaulicht und dann die großen Schlepper“ sind ihr aber gut in Erinnerung geblieben.

Es ist nicht der Autolärm, der sie am meisten nervt. Es ist der Schmutz in der Luft. „Fensterputzen lohnt sich nicht“, entschuldigt sich die 38-Jährige dafür, dass alle Scheiben grau sind. „Der Staub ist ganz massiv.“ Was das für Staub ist, will sie lieber nicht wissen. „Wenn ich mir darüber auch noch Gedanken machen würde, hätte ich keine Ruhe mehr“, sagt die alleinstehende Mutter. Wie dreckig die Luft ist, sei besonders nach Regen gut zu sehen. Wenn die Scheiben danach wieder abtrocknen, gibt es kein Fenster mehr, durch das sie noch klar sehen kann. Häufig muss sie auch zum Staubsauger greifen, „hier bilden sich ganz schnell Flusen“, beschreibt sie die Folgen der staubigen Luft. Dieser Dreck kommt vor allem von der Autobahn, ist die 38-Jährige überzeugt.

Ihre Tage in der Wohnung am Riegelplatz sind gezählt. Andrea Herrmann will ausziehen, sobald sie eine andere Wohnung gefunden hat. Die Autobahn ist nicht das Hauptproblem, die Nebenkosten ihrer Vierzimmerwohnung wachsen ihr über den Kopf. Gegen eine größere Straße vor der Wohnung hat sie nichts. Nie wieder aber wird sie so dicht an einer Autobahn wohnen, wie am Riegelplatz. Denn aus keiner Wohnung der Stadt kann man den Alltag auf der A4 besser beobachten, als aus dem Dachgeschoss von Andrea Herrmann in Kaditz.