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„Vieles ging einfach per Handschlag“

Ulf Großmann im SZ-Interview über die Anfänge der Europastadt Görlitz, bei deren Proklamation vor 20 Jahren er dabei war.

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© nikolaischmidt.de

Von Daniela Pfeiffer

Mit dem Bus nach Zgorzelec, um dort einzukaufen oder zum Frisör zu gehen – heute ist das eine Selbstverständlichkeit. Der Spaziergang über die Altstadtbrücke, der polnische Arzt im Krankenhaus, der Klassenkamerad aus Zgorzelec in der Schule der Kinder, das deutsch-polnische Ehepaar im Nachbarhaus. All das gibt es eigentlich erst seit 20 Jahren und ist doch schon so selbstverständlich geworden. Ulf Großmann, damals Erster Beigeordneter in Görlitz, hat maßgeblichen Anteil daran, dass es die Europastadt seit 20 Jahren gibt. Bei deren Proklamation am 5. Mai 1998 war er dabei – als kommissarischer Oberbürgermeister. Im SZ-Interview erzählt er von den Erwartungen, die er vor 20 Jahren hatte, ob und wie sie erfüllt wurden.

Herr Großmann, was ist das Beste, das uns die Europastadt gebracht hat?

Dass wir Brücken gebaut haben. Bauliche und zwischenmenschliche. Allem voran denke ich an die Altstadtbrücke, die 2004 eingeweiht wurde oder an die gemeinsame Bewerbung zur Kulturhauptstadt und wie weit wir da kamen. Aber auch, dass sich die Menschen in einer Art und Weise näher gekommen sind, wie wir es vor 20 Jahren nicht für möglich gehalten hätten. Inzwischen ist das alles normal. So normal, dass wir es fast nicht mehr würdigen.

Wie waren die Beziehungen vorher? Woran erinnern Sie sich?

Es herrschte Sprachlosigkeit, die Menschen auf beiden Seiten waren voller Vorbehalte. Bis auf die acht Jahre zwischen 1972 und 1980, wo man mal ohne Visum über die Grenze durfte, gab es ja keine Gelegenheit, sich zu begegnen. Keine Chance, dass der Aussöhnungsprozess, der im Grunde noch seit Kriegsende anstand, beginnen konnte. Der Hass auf die Deutschen war weit und lange verbreitet.

Waren Sie selbst in den acht Jahren mal in Polen?

Ja, damals noch mit meinen Eltern. Wir fuhren mit dem Trabi nach Krakau, Poznan, Katowice. Als wir uns dort eine Ausstellung ansahen, bei der es auch um den Zweiten Weltkrieg ging, sagte der Museumsführer zu uns: „So waren die Deutschen. Aber Sie sind ja auch Deutsche.“ Diese Stigmatisierung hat mich schon sehr getroffen und das Erlebnis hat mich geprägt.

Wie gelang es, diesen Hass abzulegen und sich anzunähern?

Das war ein längerer Prozess, an dessen Anfang ein sehr vorsichtiges Herantasten stand. Los ging es auf Bürgermeister- und Dezernenten-Ebene beider Städte und zwar mit einem ganz profanen Thema: In Polen wollte man die Häuser der polnischen Uferstraße abreißen. Man bat uns, einigen Familien, die dort wohnten so lange Unterkünfte zu geben, bis sie in Zgorzelec etwas Neues fanden. Wir schlugen natürlich die Hände über dem Kopf zusammen, angesichts der Pläne, die historische Bausubstanz wegzureißen. Die Stadtplaner beider Seiten tauschten sich aus, woraus ja später auch eine sehr enge Zusammenarbeit wurde. Nach und nach begann die Kooperation auf anderen Ebenen, der gesundheitlichen zum Beispiel.

Welche Fragen gab es denn da?

Nun, unser Gesundheitsamt registrierte immer mehr Aidsfälle, die Recherchen ergaben, dass die Betroffenen Kontakt zu Prostituierten in Zgorzelec hatten. Also wurden in einem Projekt Frauen gezielt angesprochen und aufgeklärt. Probleme gab es anfangs aber auch auf vielen anderen Gebieten. Erinnert sei nur an die Lkw-Schlangen zur Stadtbrücke hin. Manchmal fast bis Hagenwerder. Straßenbau, Sicherheit und und und. Als Polen noch nicht in der EU war, habe ich immer gesagt: Wir haben hier alle europäischen Grenzen, die man haben kann, sprachliche, kulturelle, wirtschaftliche.

Und doch fand sich immer ein Weg, sie zu überwinden. Wenn auch manchmal nicht ganz legal?

Das ist richtig. Beim Zoll klappte Manches nach einer gewissen Zeit per Handschlag – das Vertrauen war aufgebaut und unter dem Titel „Europastadt“ ging vieles. So mussten anfangs für Auftritte mit Instrumenten in Polen jedesmal aufwendig Zollpapiere ausgefüllt werden. Später wurden wir an der Grenze einfach durchgelassen, wenn wir versprachen, dann und dann zurück zu sein. Das betraf zum Beispiel das deutsch-polnische Musikschulorchester.

Die Geschichte mit dem ersten Bus, der rüber fuhr, lief auch nach diesem Motto?

Genau, einfach mal machen. Die Buslinie war nicht genehmigt. Einen Bus über die EU-Außengrenze fahren zu lassen, das ging ja gar nicht. Wir sagten uns: Wir schicken ihn einfach los. Der Bus war voll, die Leute begeistert. Später gab es dann extra eine Busspur am Grenzübergang. Und so gibt es unendlich viele Anekdoten und Geschichten, die wir auf dem Weg zu einer Stadt erlebt haben. Auch die mit dem Wasserschaden: Sonntagmorgen um 5.30 Uhr ruft mich mein polnischer Amtskollege an und sagt: Im Neubaugebiet ist ein Wasserrohrbruch, könnt Ihr uns helfen? Um 8 Uhr standen die Wasserwagen an der Grenze. Natürlich war es auch nicht legal, diese über die EU-Außengrenze zu bringen.

Wie haben Sie das eigentlich mit der Sprache hinbekommen?

Ganz unterschiedlich. Mein Amtskollege sprach immer sehr gut Deutsch, mit dem jetzigen Bürgermeister Gronicz spreche ich Englisch, mit seinem Vorgänger war es eine Mischung aus Deutsch und Russisch. Aber bei offiziellen Gesprächen und Verhandlungen hatten wir stets Dolmetscher.

Abseits der offiziellen Ebene: Wann hatten Sie das Gefühl, jetzt kommt sich auch die Bevölkerung näher?

Einige, die vorausgingen, gab es sehr früh. Sie haben gemeinsame Jugendklubarbeit aufgebaut, Verbindungen zu Sportvereinen geknüpft oder in die Kultur. Aber die meisten Menschen begegneten sich zuerst beim Einkaufen. Anfangs fuhren die Görlitzer auf die Polenmärkte. Als es die Möglichkeit für beide Seiten gab, einkaufen zu kommen, wurde das stärker. Plötzlich gab es im Handel polnische Verkäuferinnen. Das waren die Anfänge der ersten Zuzüge aus Polen, die ja inzwischen rasant Fahrt aufgenommen haben. Seit 2012, als wir 1 200 in Görlitz wohnhafte Polen hatten, hat sich diese Zahl auf nunmehr knapp 3 600 verdreifacht. Und das hat der Europastadt wieder eine neue Dimension gegeben. Jetzt kommen die Menschen sich endlich auch ganz privat näher.

Das hat fast 20 Jahre gedauert.

Als ich 1990 prophezeit habe, dass es mindestens zwei Generationen dauern wird, bin ich für diese Aussage fast gesteinigt worden. Aber es ist so. Es braucht zwei Generationen, um die Aussöhnung zu schaffen. Die erste Generation ist durch und jetzt kommt die zweite – eine, in der es kaum noch Vorbehalte gibt, stattdessen sogar immer mehr deutsch-polnische Partnerschaften. Genau das ist es, was wir wollten. Ich freue mich über jegliche Kontakte, die ich heute sehe.

Also Ziel erreicht? Wir haben eine Grenzstadt, wie sie im Buche steht?

Oh nein, das sicher nicht. Es gibt immer noch Dinge, die geregelt werden müssen – etwa bei der Schule. Wer in Deutschland lebt, muss sein Kind auch hier zur Schule schicken oder umgekehrt. Nach wie vor gibt es nur die zwölf Plätze mit Sonderstatus für polnische Kinder in einer Görlitzer Kita. Das sollte auch anders gehen, wir sollten den Kindern schon die Möglichkeit geben, zusammen aufzuwachsen. Zudem wünsche ich mir, dass Projekte, die eine europaweite Dimension haben, mehr gefördert werden. So wie die EuropaChorAkademie, die mir persönlich sehr am Herzen liegt. Und die Stadt sollte mit dem Titel Europastadt mehr wuchern. Andere Städte machen vor, wie gut man sie unter dem Motto „Eine Stadt – zwei Nationen“ mit europäischen Inhalten füllen kann.

Lesen Sie am Dienstag in der SZ: Wie Händler und Kunden über das grenzüberschreitende Einkaufen denken.